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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #33 - 1.09.2023

 

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

 

Klinefelter: nicht nur große Jungs mit langen Armen…

 

Axel Enninger: Heute spreche ich mit:

PROF. DR. CORINNA GRASEMANN.

 


DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, und jetzt kann ich zum zweiten Mal sagen: „liebe Zuschauerinnen und Zuschauer“ – zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Zweite Folge mit Video, zweite Folge mit Frau Professor Grasemann, herzlich willkommen! Frau Professor Grasemann ist Kinderärztin, Kinder-Endokrinologin und Leiterin des Zentrums für seltene Erkrankung an der Universitätskinderklinik in Bochum. Sie ist zwar zum zweiten Mal da, aber wir haben heute auch eine Premiere, denn wir haben einen Titel, den Sie als Gast vorgeschlagen haben. Das ist noch nie vorgekommen, denn wir reden heute über Klinefelter-Syndrom. Wir als Team, das sich Themen überlegt, hatten dieses Thema überhaupt nicht auf der Kette und waren ein bisschen überrascht, als Sie es vorgeschlagen haben. Warum ist es Ihnen so wichtig?

Corinna Grasemann: Ja, vielen Dank. Das ist genau der Grund, warum mir das so wichtig ist, weil nicht nur Sie als Team, sondern wir alle, das glaube ich, es nicht genug auf der Kette haben. Ich bin Kinder-Endokrinologin, und die meisten von uns wissen, dass es beim Klinefelter-Syndrom irgendwann zum Untergang des Hodengewebes kommt. Der Hoden funktioniert nicht mehr, und es entsteht ein Testosteronmangel. Deswegen sehen wir viele Patienten mit Klinefelter-Syndrom in der Kinder-Endokrinologie. Da wird mit der Zeit doch deutlich, dass es da einen Symptomkomplex gibt, der weit über die kinderendokrinologischen Belange hinausgeht, der nicht gut beschrieben ist für uns Kinderärztinnen und Kinderärzte, und der, glaube ich, unbedingt mehr in den Fokus gerückt werden muss. Das wäre mir ein Anliegen, dass wir das heute mal tun.

Axel Enninger: Okay, sehr gut. Generationen von uns Ärzten haben immer die „Kreuzeltests“ gemacht, und wir haben Bilder vom Klinefelter-Syndrom: Wir haben pubertierende Kinder mit ein bisschen Gynäkomastie, und dann musste man kreuzeln „XXY“. Das ist eigentlich das einzige Engramm, das ich dazu habe. Und von diesem Engramm wollen Sie uns ein bisschen wegleiten, oder?

Corinna Grasemann: Ja, unbedingt! Das Klinefelter-Syndrom ist 1942 von Klinefelter erstmalig beschrieben, und ich glaube, wir sehen alle diese großen Jugendlichen oder Männer vor uns mit Gynäkomastie, mit überlangen Extremitäten und dann vielleicht auch noch mit einem ganz kleinen Genital, was uns auf die Idee bringen soll, dass das jemand ist, der ein Klinefelter-Syndrom hat. Diese Individuen gibt es, aber es ist nicht das typische Erscheinungsbild des Jugendlichen oder Mannes mit Klinefelter-Syndrom. Deswegen gilt es unbedingt das zu korrigieren.

 

Normaler Pubertätsbeginn, tastbar sekundär kleiner Hoden

Axel Enninger: Das heißt, wir müssen neu fokussieren und neu lernen, also a) früher dran zu denken und b) dieses Bild des großen Jugendlichen mit der Gynäkomastie raushaben. Wir müssen früher dran denken. Habe ich es richtig verstanden, ist das das Thema?

Corinna Grasemann: Das ist richtig. Ich glaube, wenn wir nochmal zurückgehen zur Pubertät, zu dem Jugendlichen, dann würde ich auch dieses Bild gerne korrigieren. Es ist so, dass Klinefelter- Menschen im Schnitt fünf bis sechs Zentimeter größer werden als ihre leiblichen Brüder. Also werden sie ein bisschen größer, und sie haben manchmal auch überlange Extremitäten. Überlang heißt, dass die Armspanne mehr als sieben Zentimeter größer ist als die Körperlänge, wenn man es denn gemessen hat.

Axel Enninger: Also wie Marfan?

Corinna Grasemann: Ja, genau, das sieht dann so ein bisschen marfanoid aus. Wenn man aber über das Genital spricht, dann gilt, dass die allermeisten Jugendlichen mit Klinefelter-Syndrom eine ganz normale, zeitgerechte Pubertätsentwicklung anfangen und ein adultes, männliches Genital ausbilden. Deswegen kann man daran relativ schlecht erkennen, ob jemand ein Klinefelter-Syndrom hat oder nicht.

Axel Enninger: Also ist da unser Engramm eigentlich schon falsch?

Corinna Grasemann: Ja, auf jeden Fall. Die Hoden werden sekundär klein, ganz klein bis zu einem Milliliter. Sie sind dann fest wie eine Bohne, aber sie liegen in einem quasi adult ausgebildeten Hodensack, und deswegen sieht das nicht komisch aus. Das merkt man nur, wenn man fühlt. Wenn man tastet, wie groß ist der Hoden, dann wird man sofort merken, oh, hier stimmt irgendetwas nicht. Aber getastet jenseits des Alters von 15 Jahren wird ja wenig, noch weniger als vorher, und deswegen entgeht uns das leicht.

Axel Enninger: Bei den Kinder-Endokrinologen vielleicht noch mehr, aber vielleicht bei den nicht-spezialisierten Kinder- und Jugendärzten weniger. Ich hatte einen kinderendokrinologischen Chef. Wenn der einen bei der Visite ärgern wollte, fragte er immer nach Hodenvolumen. Aber es ist lange vorbei, dass ich diesen Chef hatte und lange vorbei, dass ich mich aktiv erinnern kann, wann ich tatsächlich zuletzt das Hodenvolumen bestimmt habe.

Corinna Grasemann: Das ist ja auch ein Schritt, den man machen muss. Da muss man sagen: „Ich untersuche jetzt, wie groß deine Hoden geworden sind. Ich muss dafür fühlen. Das ist dir vielleicht unangenehm. Wie sollen wir das machen?“ Also, das ist, glaube ich, nichts, was man in einer routinemäßigen körperlichen Untersuchung leicht untergebracht hat.

Axel Enninger: Mhm. Okay, also das heißt, wir müssen sowieso an dem Bild arbeiten, und wir müssen daran arbeiten, dass, selbst wenn es ein relativ klassisches Bild wäre, wir auch noch andere Symptome haben.

Corinna Grasemann: [Zustimmend.] Mhm.

 

Jeder Fünfhundertste ist keineswegs selten!

Axel Enninger: Okay, was ist Ihnen da wichtig?

Corinna Grasemann: Also wichtig sind mir zwei Dinge. Das eine, was mir wichtig ist, ist, dass das Klinefelter-Syndrom eigentlich eine häufige Erkrankung ist. Ungefähr jede 500. männliche Geburt hat ein zusätzliches X-Chromosom, also entspricht einem 47,XXY Klinefelter-Karyotyp. Das heißt, jeder 500. Junge könnte davon betroffen sein.

Axel Enninger: Okay, können wir nochmal kurz… Jeder Fünfhundertste. Das heißt, in einer großen Geburtsklinik mit 3.000 Geburten müssen wir tatsächlich viele im Jahr finden. Für unsere Klinik würde ich jetzt mal behaupten: Finden wir nicht.

Corinna Grasemann: Genau, weil wir sie zur Geburt nur finden, wenn es entweder eine pränatale Diagnostik gegeben hat – da werden jetzt mehr Kinder identifiziert – oder, wenn es, und das passiert halt selten beim Klinefelter-Syndrom, genitale Auffälligkeiten gibt, eine Hypospadie gibt, einen Mikropenis gibt und deswegen eine Diagnostik eingeleitet wird. Das sind die beiden Möglichkeiten, wie es zur Geburt identifiziert werden kann.

Axel Enninger: Wie hoch ist da der Anteil, dass sie klinisch auffällig sind?

Corinna Grasemann: Es ist ganz verschwindend gering, ein ganz, ganz geringer Anteil.

Axel Enninger: Das heißt, da sage ich mal, trifft uns keine Schuld?

Corinna Grasemann: Nein, da trifft uns keine Schuld.

Axel Enninger: Da übersehen wir nix. Es ist einfach so, dass es häufiger ist, aber klinisch dann eben doch nicht so oft zu sehen.

 

Hohe Dunkelziffer: 60 % erhalten niemals eine Diagnose

Corinna Grasemann: Genau. Wir kommen bis zum Ende der Pubertät, also bis zum Erwachsenenalter auf eine Diagnoserate von knapp 15 % für die Kinder und Jugendlichen. Also das ist das, was wir in der Pädiatrie erreichen. Dann wird nochmal ein Anteil diagnostiziert, meistens im Verlauf bei Fertilitätsproblemen im jungen Erwachsenenalter. Insgesamt werden etwa 40 % der Menschen mit Klinefelter-Syndrom überhaupt jemals nur erfahren, dass sie das haben. Das heißt, 60 % bleiben undiagnostiziert.

Axel Enninger: Okay, und im Kinder- und Jugendalter 85 %, die wir nicht erwischen. Die Zahl finde ich ganz überraschend, also tatsächlich 85 % nicht diagnostiziert! Liegt es daran, dass sie so häufig Mosaike haben? Oder woran liegt es?

Corinna Grasemann: Wahrscheinlich nicht. Also, Mosaike treten bei weniger als 10 % auf. Knapp 10 % haben keinen 47,XXY Karotyp, sondern entweder ein Mosaik oder andersartige Aneuploidien, zum Beispiel höhernumerische Aneuploidien, wo noch mehr X-Chromosomen auftreten, oder diese Sonderformen, wo zusätzliche Y-Chromosomen mit auftreten. Da gilt, je höher die Aneuploidie ist, desto mehr Symptome gibt es und desto eher werden diese Jungs zu einer Diagnose kommen. Ich glaube, das erste Problem ist, dass 60 % der Menschen niemals eine Diagnose haben, und das heißt, dass wir nicht wissen, ob oder was für einen Phänotyp diese 60 % haben. Alles, was wir wissen, wissen wir von den 40 %, die im Verlauf ihres Lebens jemals mal eine Diagnose bekommen haben. Logischerweise.

 

Neurokognitive Besonderheiten und metabolische Erkrankungen

Axel Enninger: Worauf müssen wir denn achten, wenn wir diese 85 % Dunkelziffer im Kindes-und Jugendalter verringern wollen? Wenn wir diese Quote runterkriegen wollen, worauf achten wir dann?

Corinna Grasemann: Da achten wir auf zwei Dinge. Das Erste sind neurokognitive Besonderheiten. Als Allererstes ist die Sprachentwicklungsverzögerung zu nennen. 90 % der diagnostizierten Menschen mit Klinefelter-Syndrom haben anamnestisch Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung, habe eine Sprachentwicklungsverzögerung, haben eine sprachbasierte IQ-Einschränkung, die größer ist als die Gesamteinschränkung. Dazu gehört auch, dass es Schulschwierigkeiten gibt, Verhaltensschwierigkeiten gibt, dass ist der eine ganz große „Topf“, auf den wir achten müssen. Der andere sind metabolische Besonderheiten. Diese Kinder und Jugendlichen neigen zu metabolischen Erkrankungen: zu einer stammbetonten Adipositas, zu allen Erkrankungen, die zum metabolischen Formenkreis dazugehören. Das ist der zweite Kreis.

 

Sprachentwicklungsverzögerung als häufige Auffälligkeit

Axel Enninger: Darf ich nochmal einhaken? Bei Sprachentwicklungsverzögerungen haben wir alle möglichen Dinge. Da geht es ums Hören, da geht es um logopädische Themen, aber das ist eine Ihrer Hauptnachrichten: „Liebe Kinder- und Jugendärzte und liebe im SPZ tätige Kolleginnen und Kollegen, bei Sprachentwicklungsverzögerungen und Junge denkt Ihr an Klinefelter!“ Oder?

Corinna Grasemann: Bei Sprachentwicklungsverzögerung und Junge und kein anderer Grund, den es dafür gibt, denkt man an Klinefelter-Syndrom und kann eine Chromosomenanalyse veranlassen. Das ist, liebe Kinder- und Jugendärzte, in der Niederlassung nicht budgetrelevant! D. h. man kann es ruhig auslösen, und es könnte die Chancen deutlich erhöhen, dass wir diese Kinder früher diagnostizieren und einer Diagnostik zuführen können.

Axel Enninger: Und ist den Kolleginnen und Kollegen im SPZ das allen so klar?

Corinna Grasemann: Ich glaube eher nicht, weil das etwas ist, was zwar in den letzten Jahren zunehmend erforscht worden ist – die neurokognitiven Besonderheiten, die es bei Kindern mit Klinefelter-Syndrom gibt – aber es ist noch gar nicht in die Breite getragen worden. Diese neurokognitive Besonderheit bei vielen Betroffenen ist als hervorstechendes Symptom, glaube ich, bei vielen nicht bekannt.

Axel Enninger: Also, Sprachentwicklungsverzögerung und Junge, da muss es „klick“ machen. Dann haben Sie vorhin noch einen zweiten Bereich der Entwicklung angesprochen. Das ist das Thema Verhaltensauffälligkeit, aber das kommt ein bisschen später, wenn ich das aus unserem Vorgespräch erinnere. Da geht es eher um das Thema Einschulung und Beginn der Beschulung, oder habe ich das falsch erinnert?

 

Oft wenig Antrieb, körperlich schwächer

Corinna Grasemann: Nein, das erinnern Sie genau richtig. Viele Familien berichten einen dramatischen Einbruch im Familienleben mit Beginn der Schulzeit, weil sich da plötzlich viele Probleme offenbaren, mit denen vorher keiner gerechnet hatte. Das Klinefelter-Syndrom geht typischerweise einher mit einem gewissen Verlust an IQ-Punkten. Ich sage „gewissen Verlust“, weil es typischerweise im normalen Bereich bleibt, aber für die Familie eben niedriger ist als man erwarten würde. So um 10 bis 15 Punkte gibt es hier eine Verringerung für die Betroffenen mit einem Klinefelter-Syndrom. Per se macht das keine Schulschwierigkeiten, aber in Kombination mit dem häufig sehr besonderen Sprach- und Sprechverständnis dieser Jungs führt das ganz häufig zu sehr ausgeprägten Symptomen in der Schule.

Axel Enninger: Das heißt, durch die Kita- und Kindergartenphase laufen sie noch halbwegs okay?

Corinna Grasemann: Ja, sie werden oft als sehr angenehm wahrgenommen. Wenn es keine starken Verhaltensauffälligkeiten gibt, dann sind es eher ruhigere Jungs, die so vor sich hinspielen, die auch gerne mal für sich spielen und die insgesamt als ganz angenehm wahrgenommen werden.

Axel Enninger: Wenn wir es in Geschlechtsstereotypien sagen – also wahrscheinlich politisch völlig unkorrekt, was ich jetzt frage: Verhalten sie sich anders als Jungs mit einem XY-Chromosomensatz? Kann man das sagen?

Corinna Grasemann: Das kann man annehmen, und das kann man wahrscheinlich auch sagen. Es gibt aber keine Studiendaten dazu, die das sicher untermauern, was auch daran liegt, dass es schwierig ist, es standardisiert zu testen. Wir wissen ja alle, dass es kein ganz typisch männliches / weibliches Verhalten gerade in diesem Alter gibt. Deswegen lässt es sich nicht mit Studiendaten untermauern. Was wir aber wissen, ist, dass die körperliche Leistungsfähigkeit dieser Jungs niedriger ist als die ihrer altersgleichen Peers. Das führt natürlich dazu, dass sie zum Beispiel am kompetitiven Sport häufig überhaupt kein Interesse haben, weil sie körperlich nicht so gut mithalten können.

Axel Enninger: Woran liegt das?

Corinna Grasemann: Das weiß man nicht, woran es liegt. Also, es liegt nicht daran, dass sie zu wenig Testosteron haben, weil das gerade im Kindesalter ja noch gar keine Rolle spielt und auch spielen sollte. Es gibt Hinweise darauf, dass das kardiorespiratorische System beeinträchtigt ist, vielleicht einfach nicht dieselbe Funktionalität zeigt wie bei Jungs gleichen Alters. Das ist auch bei erwachsenen Männern und auch mit bereits stattfindender Testosteron-Substitution nachweisbar, dass sie nicht dieselbe körperliche Leistungsfähigkeit haben, dass sie nicht dieselbe Steigerung der Herzfrequenz hinbekommen und deswegen einfach wahrscheinlich in kompetitiven Settings nicht gut zurechtkommen und so auch in ihrem Spielverhalten nicht in Erscheinung treten.

Axel Enninger: Und dadurch sind sie quasi „angenehmer“ in der Kita und nicht so wilde Jungs: Okay, Entschuldigung nochmal, übles Stereotyp, ich will mich auch gar nicht daran beteiligen, aber es ist ja das, was man sich klischeemäßig vielleicht doch vorstellen kann. Dann hatten Sie gesagt, es kommt häufig bei der Einschulung sozusagen ein bisschen „zum Bruch“? Da offenbaren sich dann Dinge, die man so eigentlich nicht erwartet hatte. Wollen wir darüber noch einmal reden? Was tritt da zutage?

Corinna Grasemann: Also, zum einen gibt es aufgrund der sprachbasierten Einschränkungen häufig Schwierigkeiten mit der Lese- und Schreibkompetenz, die dann auftritt. Zum anderen gibt es beim Vollbild des Klinefelter-Syndroms mit den neurokognitiven Besonderheiten häufige Schwierigkeiten, die dazu führen, dass diese Kinder Leistungen, Aufgaben verweigern. Das führt leider in einen ganz unglücklichen Teufelskreis, in dem diese Jungs das Attribut „faul“ zugeordnet bekommen. Man hat das Gefühl, sie könnten eigentlich, aber sie würden halt nicht machen, und die Lösung dafür ist, er muss halt faul sein. Man muss ihn irgendwie weiter antreiben.

Axel Enninger: Da passiert was? Was passiert, wenn man sie antreibt?

 

Symptome, Komorbiditäten, Anlaufstellen

Corinna Grasemann: Mit sehr, sehr starkem Druck, fangen sie an zu arbeiten. Aber tatsächlich bräuchten sie Diagnostik und supportive Unterstützung und Therapie, weil sie zum einen einfach häufig Schwierigkeiten haben, komplexere Anweisungen zu verstehen und in die Umsetzung zu bringen. Da greifen alle diese Dinge, die wir auch aus anderen Bereichen kennen, vielleicht aus der Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen, die Autismus-Spektrum-Störungen haben, wo man schon weiß, dass man direkte, einfache Kommunikation und Arbeitsanweisungen braucht. Das gilt hier auch. Autismus-Spektrum-Störung ist eine häufige Komorbidität beim Klinefelter, genauso wie Angststörungen, Depressionen, die sich dann häufig erst im späteren Verlauf ausbilden. Aufmerksamkeitsstörungen kommen vor, und all diese Dinge müssen diagnostisch sauber getrennt werden und dann entsprechend unterstützt und therapiert werden.

Axel Enninger: Okay, auch da brauchen wir eine saubere Diagnostik. Kleiner Querverweis für diejenigen, die es noch nicht gehört haben: Es gibt auch eine Podcastfolge zum Thema Autismus-Spektrum-Störung mit Frau Kamp-Becker, auch, wie ich finde, eine sehr, sehr spannende Folge. Aber auch da erinnere ich noch, dass es da viele Komorbiditäten und Überlappungen mit anderen Dingen gab. Heißt das, diese Kinder müssen möglichst spezialisiert untersucht werden? SPZ oder Kinder- und Jugendpsychiatrie – was wäre da der richtige Ort, um sie zu testen und dann entsprechend fördern zu können? Eher SPZ, oder?

Corinna Grasemann: Na, das kommt sicher auf das Ausmaß der Symptome an und auf einen zweiten Bereich, über den wir bisher nicht gesprochen haben, die Verhaltensauffälligkeiten. Auch das ist ein Problem, das die Familien oft sehr belastet und das im Schulalltag sehr belastend sein kann. Das sind typischerweise Jungs, die keine oder wenige tatsächliche Freunde haben oder die Verbindung zu viel, viel älteren Männern herstellen und sich da freundschaftlich aufgehoben fühlen. Das sind häufig Kinder, die ausgenutzt werden, gemobbt werden, wo man ein bisschen gucken muss, dass man eine Stärkung des Selbstbewusstseins erreicht und eben auch einen Schutz. Je nachdem, wie ausgeprägt dieser psychiatrische Aspekt ist, dieser verhaltensauffällige Aspekt, ist die Diagnostik manchmal eher im SPZ und manchmal eher in der Kinder- und Jugendpsychiatrie angesiedelt. In meiner Erfahrung sind sie erst einmal im SPZ gut aufgehoben, wenn sie da denn ankommen.

 

Familienerwartbarer IQ gemindert, Beschulbarkeit kann schwierig sein

Axel Enninger: Das heißt, da ist der Punkt also Stichwort „faul“ und verhaltensauffällig. Wenn Eltern so etwas dem Kinder- und Jugendarzt schildern, auch da hellhörig werden und sagen: ‚Vielleicht ist es doch nicht im Rahmen des normalen Spektrums, sondern man sollte nochmal gezielt gucken.‘ Was auch spannend war, das hatten Sie vorhin im Nebensatz gesagt, IQ-Punkte nicht-signifikant im Vergleich zum Durchschnitt, aber zum familienerwartbaren IQ eher vermindert. Das heißt, es gibt vielleicht drei, vier ältere Geschwisterkinder, und dann fällt dieses Kind auf. Auch da muss man hellhörig werden, habe ich das richtig verstanden?

Corinna Grasemann: Genau. Das ist genau richtig. Wenn Sie Familien haben, wo die Kinder alle das Gymnasium besuchen, und der eine kommt nicht so gut zurecht oder besucht die Hauptschule, weil er die Leistung nicht erbringt, hat zwar eine formal normale Testung, aber wenn Sie es sich angucken, für mich als Kinder-Endokrinologin ist das so wie mit familiärer Körpergröße. Es kann natürlich durchaus normal sein, an der 3. Perzentile entlang zu wachsen, aber wenn der ganze Rest der Familie auf der 75. Perzentile wächst, dann stimmt vielleicht etwas nicht. So wird das mit dem IQ auch sein. Da muss man manchmal hellhörig werden und sagen, na ja, der passt hier vielleicht nicht in die Familie.

Axel Enninger: Okay, aber grundsätzlich sind sie gut beschulbar, wenn man auf ihre Besonderheiten achtet.

Corinna Grasemann: Nein, sie sind nicht gut beschulbar.

Axel Enninger: Sie sind nicht gut beschulbar. Okay, weil?

Corinna Grasemann: Ja, weil wir in unserem System keine guten Angebote haben für diese spezifische Gruppe. Sie fallen ja häufig nicht unter eine Lernbehinderung, sodass sie eine besondere Art der Beschulung brauchen würden. Es ist für die Eltern oft ein wahnsinnig langer Weg und schwieriger Weg, bis diese Kinder dann einen Integrationshelfer haben, der sie unterstützt. Bei den Familien muss man ein bisschen nachfassen und nachfragen. Auf den ersten Blick sagen die Jungs immer, es ist alles völlig in Ordnung, sie haben viele Freunde, es geht ihnen wunderbar. Die Eltern sagen das kurz auch, und wenn man genauer nachfragt, dann gibt es auf einmal unfassbar viele Probleme. Die fangen ganz typischerweise damit an: ‚Der putzt sich noch nicht mal die Zähne.‘ Das braucht halt eine tägliche Ansage: ‚Würdest du bitte Zähneputzen gehen?‘ Das erleben die Familien als nur einen ganz kleinen Baustein, aber als sehr, sehr belastend, dass immer alles nochmal aufgefordert und angemahnt und eingefordert und kontrolliert werden muss.

Axel Enninger: Das heißt, so ein bisschen eine Kameltreiberrolle, in die man als Eltern ineinkommt.

Corinna Grasemann: Ja.

Axel Enninger: ‚Und jetzt mal nochmal dieses, und jetzt noch mal jenes…‘ Okay, und auch da erinnere ich mich an die Folge mit den Autismus-Spektrum-Störungskindern. Auch da sind einzelne Aufforderungen nötig, nicht Ketten von Aufforderungen loswerden. Das gilt für diese Jungs auch.

Corinna Grasemann: Genau, und ich kann mir gut vorstellen, dass die Besonderheit in der Sprachwahrnehmung da auch die Schnittmenge mit den Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen ist, weil es einfach eine besondere Form der Sprachverarbeitung ist, und deswegen sind diese Kettenaufforderung für sie überhaupt nicht umsetzbar. Wenn ich jetzt sage ‚für diese Kinder‘, dann gilt das immer unter dem Vorbehalt, dass wir tatsächlich ja nur einen ganz, ganz geringen Teil im Kindes- und Jugendalltag kennen, und ich kann nur über die sprechen, die wir beobachten und die in Studien inzwischen sehr, sehr gut untersucht worden sind.

Axel Enninger: Das heißt, es kann gut sein, dass diese Dunkelziffer, die Nicht-Erkannten, diese Auffälligkeiten gar nicht so sehr haben, weil wir sie ja nicht identifiziert haben.

Corinna Grasemann: Da wissen wir es nicht.

Axel Enninger: Wir wissen nicht, wie sie sich klinisch darstellen.

Corinna Grasemann: Es kann auch sein, dass sie gar nicht beschulbar sind, aber trotzdem nicht diagnostiziert, aber wir wissen es einfach nicht, wo sie sind.

 

Testosteron substituieren ja, aber das Problem löst sich nicht auf

Axel Enninger: Wechseln wir vielleicht nochmal zu Ihrem originären Hormonthema. Da hatten Sie gesagt, dass es auch Auffälligkeiten gibt.

Corinna Grasemann: Ja, da gibt’s tatsächlich Auffälligkeiten. Testosteron, das wissen wir alle, ist das Hormon, das gut für die Muskulatur ist, für den Antrieb. Es wird zum Dopen benutzt, damit man sich körperlich gut fühlt. Und wenn Sie jetzt solch einen Jugendlichen haben, der ein bisschen schlapp und antriebsarm ist und der vielleicht ständig aufgefordert werden muss, dann liegt es natürlich nahe zu sagen: ‚Na, ist ja klar, er hat ein Klinefelter-Syndrom, er hat einen Hormonmangel, er braucht halt Testosteron‘. Das stimmt auch. Also, sie werden alle Testosteron brauchen, und sie sollen auch substituiert werden, aber diese Testosterongaben lösen das Problem nicht auf. Es gibt eine Verbesserung der Situation, wenn ein Jugendlicher in einen Testosteronmangel hineingeraten ist, weil seine Hodenfunktion jetzt nicht mehr adäquat ist, und es steigen die Gonadotropine, LH und FSH, an. Dann ist es Zeit für eine Substitution.

Axel Enninger: Aber nur nochmal für den Nicht-Endokrinologen gefragt: Das heißt, sie starten erst normal in die Pubertät und wachsen auch entsprechend, und dann passiert es, dass die Hoden kleiner werden, und das Testosteron sinkt. Habe ich es richtig verstanden? Noch mal für die Laien unter uns, ich bin auch einer.

 

Testosteron- und Spermienproduktion sind zweierlei

Corinna Grasemann: Genau, also sie starten ganz überwiegend ganz normal in die Pubertät. Es gibt Einzelne, bei denen es nicht klappt, aber der größte Teil von ihnen startet ganz normal in die Pubertät mit allen äußerlichen Erscheinungen einer Pubertätsentwicklung. Dann geht die Gonade, der Hoden kaputt, und er verliert beide Funktionen. Er verliert die Funktion, Testosteron zu produzieren, und er verliert auch die Fähigkeit, Spermien zu produzieren. Diese beiden Entwicklungen verlaufen nicht parallel. Deshalb ist der Fertilitätserhalt immer eine Frage, die im Raum steht. Aber irgendwann im Verlauf der Pubertät wird die Pubertätsentwicklung nicht mehr weitergehen. Die Testosteronspiegel werden nicht weiter ansteigen, sondern werden langsam wieder abfallen. Das ist extrem schwierig festzustellen, weil man denkt, es ist ja alles losgegangen, es ist alles super. Wenn man nicht weiß, dass er ein Klinefelter-Syndrom hat, dann dauert es lange, lange, lange, bis jemand fragt: ‚Warum rasiert der sich eigentlich immer noch nicht?‘ Oder: ‚Warum kriegt der jetzt hier so eine komische Pubertätsgynäkomastie, wo er doch eigentlich schon fertig sein sollte?‘

Axel Enninger: Da würde ich gerne zwei Szenarien mit Ihnen durchgehen. Also einmal, nehmen wir mal an, man weiß, dass jemand einen Klinefelter hat, und er ist bei Ihnen in Betreuung. Sie sehen, er kommt in die Pubertät, und Sie ahnen oder Sie wissen, irgendwann fällt das Testosteron ab. Da muss ich irgendwann als Kinder-Endokrinologin wahrscheinlich sagen: ‚Jetzt braucht er es aber!‘ Wie stelle ich diesen Zeitpunkt fest? Wie mache ich das?

Corinna Grasemann: Wir kontrollieren sie, wenn sie in einem pubertätsreifen Alter sind, etwa halbjährlich, einschließlich der Biochemie und der klinischen Untersuchung. Wir instruieren sowohl die Jugendlichen als auch die Eltern, über klinische Symptome, die man hat, wenn man einen Testosteronmangel in dem Alter hat, nämlich man fängt tagsüber an zu schlafen, ist schlapper, kommt nicht mehr zurecht, sodass sie sich auch, wenn sich im Intervall zwischen diesen beiden Terminen klinische Symptome zeigen, melden können, dass man da nochmal guckt. Wenn man das Labor chemisch kontrolliert – es ist ein endokrinologisches Regelsystem – dann sieht man irgendwann, dass die Hormone, die den Hoden ansteuern wollen, das LH und das FSH, zu steigen anfangen, während der Testosteronspiegel stagniert. Das ist der Zeitpunkt, zu dem es sinnvoll ist, eine Testosterontherapie, was ja letztlich eine Hormonersatztherapie ist, zu starten.

Axel Enninger: Okay, auch jetzt da nochmal gefragt, auch das mag stereotyp klingen, sind sie pflegeleichter, weil sie weniger Testosteron haben? Sind sie weniger aggressiv? Oder kann man das so nicht sagen?

Corinna Grasemann: Keiner von uns möchte einen Teenager zu Hause sitzen haben, der unglücklich ist, den ganzen Tag schläft und nicht in die Schuhe kommt. Also ich glaube nicht, dass sie pflegeleichter sind. Die Eltern machen sich große Sorgen.

Axel Enninger: Genau, aber es ist dann schon so, das wissen wir alle, dass Testosteron durchaus auch etwas mit unserem Verhalten zu tun hat.

Corinna Grasemann: Das Verhalten zeigen sie nicht.

 

Testosterongabe versus Fertilitätsmedizin – nur scheinbar ein Widerspruch

Axel Enninger: Testosterongesteuertes Verhalten zeigen sie eher nicht. Das Thema ist dann: Antriebsarmut, Schlappheit? Okay. Das heißt, jetzt hatten wir Szenario A. Sie kennen den Patienten, Sie machen alle halbe Jahre Ihre Hormonbestimmungen, und in dem Moment, wo LH und FSH sozusagen weiter losfeuern, aber keine Antwort mehr kommt, sagen Sie: Okay, jetzt geht’s los mit der Substitution.

Corinna Grasemann: [Zustimmend.] Mhm.

Axel Enninger: Und ist das unumstritten, oder gibt es da Diskussionen?

Corinna Grasemann: Naja, da gibt’s tatsächlich Diskussionen, und zwar gibt es Diskussionen wegen der zweiten Funktion des Hodens, wegen der Spermatogenese. Die Fertilitätsmedizin ist in der Lage, mittels TESE, also mittels einer mikrochirurgischen Operation am Hoden, in etwa 50 % der Jugendlichen und Männer mit Klinefelter-Syndrom Spermien zu asservieren. Es gibt die Vorstellung, dass das besser gelingt, wenn diese Menschen noch keine Testosteronbehandlung bekommen haben.

Axel Enninger: Okay, das heißt der Fertilitätsmediziner fragt: ‚Ey, was machst denn du da, Kinder-Endokrinologin? Du gibst dem Testosteron, das ist aus unserer Sicht nicht gut!‘ Oder? Da gibt’s einen kleinen Widerstreit.

Corinna Grasemann: Genau, da gibt es so ein bisschen Widerstreit. Es gibt aber überhaupt keine Daten, die beweisen, dass es in diesem Kollektiv nachteilig ist. Und es gibt auch das Problem, dass es häufig noch relativ unreife Jugendliche sind, die man ungerne durch die – ich nenne es jetzt mal provokant so – „Mühle der Fertilitätsmedizin“ drehen möchte, weil sie ja tatsächlich, wenn vor einer solchen Testosteronsubstitution noch eine TESE erfolgen soll, zur Untersuchung müssen, Ejakulat abgeben müssen, das wird untersucht, dann erfolgt eine stimulierende Therapie und eine TESE. Da können durchaus noch einige Wochen ins Land ziehen.

Axel Enninger: Das heißt, da würden Sie sagen, das können wir später auch noch mal machen, und deswegen sind Sie pro Testosterongabe. Habe ich es richtig kapiert?

Corinna Grasemann: Ich bin pro Testosterongabe, aber ich bin auch absolut dafür, die Familien und in dem Fall auch die Jugendlichen ganz klar aufzuklären, es mit ihnen zu besprechen und sie zu einem Beratungsgespräch in die Fertilitätsmedizin zu schicken. Das kann man ja alles wunderbar machen. So viel Zeit ist auf jeden Fall noch, so dass sie dann selber entscheiden können, was jetzt für sie eine Priorität hat und was nicht. Ich bin strikt dagegen, mal drei Jahre zu warten und ihn erst mal ein bisschen älter werden zu lassen, weil wir wissen, dass dann irgendwann der Hypogonadismus bis hin zur Depression wirklich schlimme Folgen für die Jugendlichen hat.

Axel Enninger: Und die Testosteronsubstitution, die Sie dann starten, die geht wie lange? Ewig oder wie?

Corinna Grasemann: Ja, im Prinzip ja. Also, es ist ja eine Hormonmangelsituation, die da entsteht, und die man im jungen Leben auf gar keinen Fall haben möchte. Es berichten immer wieder Männer mit Klinefelter-Syndrom, auch in der Selbsthilfe, dass sie entweder sehr, sehr spät diagnostiziert worden sind, nie eine Testosteronsubstitution hatten, das dann ausprobiert haben und das für sich wieder abgesetzt haben. Aber viele bleiben auch dabei. Die meisten berichten deutliche klinische Veränderungen. Sie können ihren Testosteronspiegel relativ gut erfühlen und sagen: ‚Oh, ich glaube, ich brauche hier engere Therapieabstände.‘ Wir machen das nicht „nach Gefühl“, sondern nach Hormonwerten, aber es ist durchaus so, dass sie es sehr deutlich merken, wie die Testosteronspiegel sind.

Axel Enninger: Und ist das in der langfristigen Therapie genauso sicher, wie wenn der Körper selber Testosteron bilden würde?

Corinna Grasemann: Ja, das ist eine Hormonersatztherapie, und da gilt das Gleiche, wie wenn man Schilddrüsenhormon nimmt oder Wachstumshormon nimmt, wenn der Körper das selber nicht produziert. Dann sind die Sekundärschäden, die entstehen, wenn man es nicht substituiert, viel, viel größer als alle Probleme, die es machen könnte, wenn man es substituiert.

Axel Enninger: Und ganz blöde Frage, man nimmt das als Tablette oder auf welche Weise?

Corinna Grasemann: Nein, das gibt’s leider nicht. Testosteron für Kinder und Jugendliche ist zurzeit nur zugelassen in einer Spritze, die 3–4 Wochen hält. Ab dem 18. Lebensjahr gibt es ein Präparat, das für bis zu 12 Wochen hält. Es muss aber bei der 1. Gabe unbedingt nach 6 Wochen zum 2. Mal gegeben werden, damit man adäquate Spiegel erreichen kann. Es gibt Testosteron-Gel, das zugelassen ist. Das kommt für die Klinefelter-Menschen häufig nicht in Frage, weil sie diese regelmäßige Applikation des Testosteron-Gels morgens nicht hinbekommen und das auch selber sagen, dass sie es sich nicht vorstellen können, dass sie es regelmäßig machen. Aber all diese Optionen besprechen wir dann mit den Jugendlichen und finden heraus, was der bestmögliche Weg ist.

Axel Enninger: Okay, das heißt, das ist in aller Regel ein subkutan zu applizierendes Depot, quasi.

Corinna Grasemann: i. m.

Axel Enninger: i. m., nicht subkutan.

Corinna Grasemann: i. m., es ist ein bisschen schmerzhafter.

Axel Enninger: Okay, und das heißt, da muss man zum Doktor oder lernen sie es irgendwann selber?

Corinna Grasemann: Nein, es ist eine ölige Lösung. Dafür muss man zum Doktor, aber das machen in aller Regel dann die behandelnden Kinder- und Jugendärzte und später die behandelnden Allgemeinmediziner weiter, und es wird dann nur endokrinologisch gesteuert.

Axel Enninger: Ölige Lösung tut immer ein bisschen weh, oder?

Corinna Grasemann: Ja, tut ein bisschen weh, das sagen sie auch.

 

Hormontherapie bei Säuglingen wird nicht helfen

Axel Enninger: Gut, wenn wir jetzt sagen, Hormone und Hormonsubstitution ist ein Thema, gibt’s vielleicht neue Ansätze zu fragen, kann ich nicht viel früher mal Testosteron geben und das Ganze vielleicht heilen oder im Vorfeld irgendwie verhindern?

Corinna Grasemann: Ja, diese Ideen gibt es tatsächlich, und die machen auch sehr viel Unruhe im Moment. Da hat vor vielen Jahren eine Kollegin in USA angefangen, eine Kohorte zusammenzusammeln, die ist handverlesen. Und es waren, ich nenne es mal Säuglinge mit genetisch bestätigtem Klinefelter-Syndrom. Denen ist zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Menge Testosteron gespritzt worden unter der Idee, man könne quasi im Gehirn etwas verändern, wenn sie schon frühkindlich mehr Testosteron bekommen würden. Die Ergebnisse sind sehr durchwachsen und lassen sich natürlich nicht richtig reproduzieren, und es gibt keine Kontrollgruppe. Die Berichte waren dann: ‚Ja, sie spielen dann ganz anders.‘ Sie zeigen dann, um zurückzugehen auf die Stereotypien, ein mehr männliches Spielverhalten im frühen Alter. Das muss jetzt mal in tatsächliche Studien gegossen werden, so weit ist es noch nicht. Es führt aber dazu, dass ich immer wieder Eltern, vor allen Dingen Eltern, bei denen pränatal bekannt geworden ist, dass sie einen Jungen mit Klinefelter-Syndrom erwarten, melden und eine frühkindliche, quasi im Bereich der Minipubertät liegenden Testosterontherapie möchten. Wir machen es so, dass wir die Testosteronspiegel messen. Sie wissen, dass wir im Bereich der Minipubertät bis zu adulte Spiegel der Hormone bekommen, und wir messen dann einfach mit 4 Wochen, mit 8 Wochen, wie ist der Testosteronspiegel eigentlich. Ich habe dabei persönlich jetzt noch kein Kind gesehen, das zu niedrige Werte hätte, sodass man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, hier brauche ich nicht auch noch zusätzlich Testosteron zu spritzen. Es wird sicher nicht helfen. Und ich möchte empfehlen, das dringend nur so zu machen, dass man einmal kontrolliert, wie ist eigentlich der Status, bevor man sich auf solche experimentellen Ideen einlässt.

Axel Enninger: Okay, das heißt, die Idee ist vielleicht möglicherweise nicht schlecht, aber kontrollierte Studien fehlen, und des Rätsels Lösung ist es nach Ihrer aktuellen Einschätzung momentan nicht.

Corinna Grasemann: Vermutlich nicht, nein.

Axel Enninger: Okay, trotzdem kann man natürlich Eltern verstehen, die sagen, das sieht aus wie ein Strohhalm. Wo ich früh behandeln kann… Also verstehen kann man es.

Corinna Grasemann: Ja.

Axel Enninger: Aber, Achtung, Achtung! Es ist noch nicht das Rätsels Lösung, oder?

Corinna Grasemann: Ja, und das ist natürlich auf gar keinen Fall zugelassen, das heißt, man befindet sich in einem experimentellen Therapiestadium, wenn man sich mit so etwas beschäftigen möchte.

Axel Enninger: Okay, kommen wir nochmal zurück zu dem, was wir ganz am Anfang sagten, nämlich dass wir ja alle irgendwie in der „Ankreuzelei“ groß geworden sind und bestimmte Dinge immer ankreuzen mussten und nun eigentlich festgestellt haben, es war waren nicht gut gestellte Fragen. Wenn Sie das jetzt nochmal neu machen würden, was sollte denn ein Medizinstudierender jetzt zum Thema Kreuzeltest wissen? Was wären die Dinge, wo Sie sagen würden, das sind Punkte, da müsst ihr beim Klinefelter drauf achten, quasi neu gemachter Kreuzeltest im Jahr 2023?

Corinna Grasemann: Neu gemachter Kreuzeltest im Jahr 2023, da würde ich die Sprachentwicklungsverzögerung reinnehmen, die man ja auch anamnestisch, glaube ich, gut rauskriegen kann. Da würde ich Schulschwierigkeiten reinnehmen, und das ist ja ein Problem, mit dem Kinder- und Jugendärzte häufig konfrontiert werden. Und dann würde ich da am ehesten die stammbetonte Adipositas reinnehmen. Das ist etwas, das auffällig ist, sogar, wenn die Kinder noch schlank sind, dass sie so ein bisschen Bäuchschen haben und dass sie nicht so sportlich aussehen wie die Gleichaltrigen. Wenn man dann in den Bereich der Pubertät kommt, dann gilt die Gynäkomastie, die über die Pubertätsgynäkomastie deutlich hinausgeht, auch noch als Zeichen des Klinefelter-Syndroms. Das entsteht durch die erhöhten FSH-Spiegel, die dazu führen, dass an der Brustdrüse am Ende mehr Östradiol zur Verfügung ist und es zu dieser Brustentwicklung kommt. Ich denke, das sind die Dinge, die wir wirklich betrachten müssen. Klar gibt’s den Hochgewachsen, Schlaksigen mit den langen Armen, der irgendwie zehn Zentimeter größer ist, aber ich habe eingangs gesagt, sie werden 4–5 cm größer. Das können Sie fast gar nicht sehen. Sie wachsen quasi in ihrem familiären Bereich perzentilentreu, ohne dass Sie da auf die Idee kommen, hier stimmt etwas nicht.

Axel Enninger: Okay, ich glaube, mit diesen neuen „Kreuzel-Statements“ haben Sie auch nochmal klar gemacht, warum es so wichtig ist, dass wir uns über Klinefelter unterhalten haben, und warum es a) Ihnen wichtig ist und b) auch für die Patienten wichtig ist, dass wir uns als Kinder- und Jugendärzte ein bisschen besser auskennen, als wir es vielleicht tun. Sie sind schon zum 2. Mal hier. Deswegen wissen Sie, dass es unser Standardelement am Ende des Gespräches gibt, und das sind die Dos & Don‘ts. Sie dürfen wieder selber entscheiden, ob Sie mit den Don‘ts oder den Dos anfangen oder ob Sie es vermischen möchten. Was wäre denn Ihre Dos & Don‘ts, die Sie unbedingt gerne loswerden möchten?

 

Hellhörig bei Sprachentwicklungsverzögerung und Schulproblemen, kinderendokrinologische Betreuung, es verwächst sich nicht, substituieren, aber kein Testosteron an Säuglinge

Corinna Grasemann: Also, ich fange mit den Dos an, und die Dos wären: Wenn Sie Jungs mit Sprachentwicklungsverzögerung haben – mir ist klar, dass das sehr, sehr, sehr häufig auftritt – aber behalten Sie sie im Auge, und wenn das ein Problem ist, das sich vielleicht fortsetzt, dann empfehle ich dringend, dass hier frühzeitig auch eine Chromosomenanalyse veranlasst wird. Das ist nicht teuer, kann man machen, und erspart der Familie im Zweifel sehr, sehr viele durchwachte Nächte. Mein zweites Do wäre, bei Schulschwierigkeiten und Jungs ist spätestens Zeit, wirklich hellhörig zu werden. Wir haben 85 % undiagnostiziert. Es gibt rein rechnerisch 80.000 Menschen mit Klinefelter-Syndrom in Deutschland. Das heißt, da haben wir noch relativ viel Luft nach oben, welche zu identifizieren, die uns noch fehlen. Und mein drittes Do wäre: Wenn Sie Patienten betreuen mit Klinefelter-Syndrom, und sie sind im Schulalter und bewegen sich auf die 10 Jahre hin, dann brauchen sie auch eine kinderendokrinologische Betreuung, weil es da Probleme mit der Pubertätsentwicklung geben wird, und das will in Ruhe vorbereitet werden. Wir wollen sie ja auch nicht überfallen und sagen: ‚So, schön, dass du hier bist, hier ist die Testosteronspritze.‘ Da ist es schon gut, wenn man darüber vorher mal sprechen kann. Und Don’ts? Don’ts sind aus meiner Sicht keine Testosterongaben an Säuglinge, zumindest nicht, ohne dass man sich die Hormonwerte vorher angeguckt hat und sich überlegt hat, ob das irgendeinen sinnvollen Hintergrund haben könnte. Und das gehört sicher in kinderendokrinologische Hand oder am besten noch in Zentren. Und zu Don’ts gehört für mich auch zu sagen: ‚Ja, ja, das verwächst sich.‘ Es verwächst sich leider nicht. Es ist ein Problem, das tatsächlich multiprofessionelle Unterstützung braucht. Wenn es zur Ausbildung des Vollbilds der Erkrankung kommt, dann brauchen sie viel Hilfe. Und habe ich noch ein drittes Don‘t? Ja. Warten Sie nicht ewig mit der Testosterontherapie. Also, wenn jemand einen Testosteronmangel hat, und es ist ein Jugendlicher, dann sollte er auch zeitnah behandelt werden. Da kann man schnell die Fertilitätsmediziner kontaktieren und sich dann ein Konzept überlegen. Das wären meine Dos & Don’ts.

Axel Enninger: Vielen Dank, liebe Frau Grasemann! Mir ist nun völlig klar, warum wir uns darüber unterhalten mussten. Ich weiß viele Dinge nicht, aber hierbei habe ich jetzt nochmal besonders viel gelernt. Vielen Dank, und ich hoffe, dass es Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, in diesem Fall Zuschauerinnen und Zuschauer, auch ein wenig so gegangen ist, dass Sie gedacht haben: ‚Oh Mann, da habe ich tatsächlich so noch nicht drüber nachgedacht.‘ Es gibt ein bisschen Literatur, die Sie zusammengestellt haben. Die werden wir in die Transkripte dieser Podcastfolge stellen, und wie immer freuen wir uns über Rückmeldungen, freuen uns über Anregungen, freuen uns über Lob, ein bisschen auch über Kritik und über gute Bewertungen auf den üblichen Podcast-Portalen freuen wir uns natürlich auch. Vielen Dank, und bis zum nächsten Mal!

Corinna Grasemann: Vielen Dank.

 

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Sprecherin: Das war consilium – der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor Allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkungen und Rückmeldungen an die E-Mailadresse podcast@infectopharm.com. Die E-Mailadresse finden Sie auch noch in den Shownotes.

Ihr Team von InfectoPharm

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Hilfreiche Links

 

Selbsthilfe

 

47xxy klinefelter syndrom e.V. https://www.47xxy-klinefelter.de/

 

Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung e.V. https://www.klinefelter.de/cms/

 

Leitlinie

Zitzmann M, Aksglaede L, Corona G et al. (2021) European academy of andrology guidelines on Klinefelter Syndrome Endorsing Organization: European Society of Endocrinology. Andrology 9(1):145–167. doi: 10.1111/andr.12909. Epub 2020 Oct 6. PMID: 32959490. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32959490/

 

Literatur

Charakterisierung sprachbasierter Auffälligkeiten:

Bishop DV, Brookman-Byrne A, Gratton N et al. (2018) Language phenotypes in children with sex chromosome trisomies. Wellcome Open Research, 3. https://wellcomeopenresearch.org/articles/3-143.

 

 

 

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Dr. Markus Rudolph

 

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