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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #10 - 06.05.2022

 

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

 

Harmloser Blutschwamm und manchmal ernstes Problem – Hämangiome

 

Axel Enninger: Heute spreche ich mit PROF. DR. PETER HÖGER.

 


 

DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gesprächspartner heute ist Professor Dr. Peter Höger. Er ist Kinder- und Jugendarzt und -Dermatologe und damit eine eher seltene Spezies. Er leitet die Kinderabteilung im Kinderkrankenhaus im Wilhelmstift in Hamburg und auch die Abteilung für Dermatologie am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Herzlich willkommen, Herr Höger.

Peter Höger: Ja. Guten Abend.

Axel Enninger: Wir wollen heute reden über Hämangiome – über Blutschwämme – und wollen darüber reden, was man tun sollte. Was man vielleicht nicht tun sollte und wie es überhaupt dazu kommt, denn eigentlich ist es ja ein häufiges Thema. Wie häufig ist denn das Thema?

Peter Höger: Etwa 4 bis 5 % aller Säuglinge haben einen Blutschwamm. Mädchen interessanterweise 2,9-mal häufiger als Jungs. Und je unreifer ein Kind, umso häufiger treten Blutschwämme auf. Bei Frühgeborenen bis zu 30 % der Fälle, je nach Unreife.

Axel Enninger: Okay, also in der Tat ein wirklich relevantes Thema. Starten wir einfach einmal mit einem fiktiven Fallbeispiel. Da kommen im Alter von drei Wochen, sagen wir mal, beide Omas zu Besuch und wollen das Neugeborene angucken. Sie entdecken eine rötliche, bissel erhabene Schwellung auf der Stirn und sagen gleich: ‚Oh, ein Blutschwamm‘, sagen beide Omas. Die eine Oma sagt: ‚Das macht nix, ist nicht so schlimm, geht schon wieder weg.‘ Und die andere Oma sagt: ‚Uh, da müsst ihr aber ganz schnell was tun, da muss man aktiv werden!‘ Die Mutter ist verunsichert, wie häufig, wenn man Ratschläge von Mutter Schrägstrich Schwiegermutter bekommt. Wenn die dann auch nicht gleichlautend sind, wird es schwierig. Erstes Kind, Blutschwämmchen auf der Stirn.

Peter Höger: Beide haben ein bisschen recht. Man muss in der Tat nicht jeden Blutschwamm behandeln. Aber diejenigen, die behandelt gehören, die sollte man behandeln. Das heißt, die eine Oma, die sagte, das wird schon weggehen, hat recht, weil über 99 % der Blutschwämme im zweiten Lebensjahr beginnen, sich von alleine zurückzubilden. Aber wenn so ein Blutschwamm mitten im Gesicht sitzt, dann ist eher eine Behandlungsindikation gegeben, auch wenn er sich nach einem Jahr beginnt, zurückzubilden.

 

Bitte nicht verniedlichen

Axel Enninger: Okay, ich habe vorhin das Wort „Blutschwämmchen“ gesagt. Sie hatten im Vorgespräch gesagt: ‚Bitte sagen Sie nicht Blutschwämmchen, sondern sagen Sie Blutschwamm.‘ Warum ist Ihnen das so wichtig?

Peter Höger: Also, das „Schwämmchen“ ist ein bisschen verniedlichend. Wir neigen als Kinderärzte ja alle dazu, aber in dem Fall handelt es sich letztlich um einen Tumor, der zwar niemals bösartig ist, aber es ist ein Tumor, der im Einzelfall wirklich Probleme machen kann. Die sind nur in extrem seltenen Fällen lebensbedrohlich. Aber es gibt zwischen harmlos und lebensgefährlich natürlich noch viele andere Komplikationen. So kann ein Blutschwamm, der in der Nähe des Auges lokalisiert ist, und zwar am meisten dann, wenn er auf dem Oberlid sitzt und ein Dickenwachstum zeigt, dazu führen, dass dieses Kind, auch wenn sich der Blutschwamm später zurückbildet, lebenslang amblyop bleibt, das heißt mit dem betroffenen Auge nicht scharf sehen lernt, weil in der Zeit des Sehenlernens sein Sehfeld eingeschränkt war. Es gibt extrem schmerzhafte, ulzerierende Blutschwämme, die einer komplexen Behandlung bedürfen und es gibt auch obstruierend wachsende Blutschwämme in den Luftwegen und andernorts, die wirklich ernste Probleme machen können. Daher nicht „Schwämmchen“, sondern „Schwamm“.

 

Mädchen, Frühgeborene, Hypoxie

Axel Enninger: Ich versuche, mir Mühe zu geben. Wenn ich es doch noch mal sagen sollte, bitte ich, das zu entschuldigen. Warum kriege ich denn ein Hämangiom?

Peter Höger: Weil Sie weiblichen Geschlechts sind, würde man zum einen sagen, wegen dieses Risikofaktors. Natürlich kriegen das auch Jungen und es ist ungeklärt, warum Mädchen so deutlich viel häufiger – in allen Ländern der Welt übrigens – Blutschwämme bekommen; es ist unklar. Natürlich vermutet man hormonellen Faktoren, aber das ist rein spekulativ. Der Faktor mit den Frühgeborenen ist wichtig, und es gibt eine Sonderform der Blutschwämme, die uns gelehrt hat, was noch wichtig ist. Der gemeinsame Nenner ist Hypoxie. Eine fokale Hypoxie induziert einen bestimmten Faktor HIF – Hypoxia-inducible Factor – der eine vaskuläre Proliferation macht. Das kann man bei allen möglichen Erkrankungen, an der Netzhaut zum Beispiel, sehen, bei Diabetes und anderen Faktoren. Man kann es zunächst als sinnvollen Gegenmechanismus des Körpers interpretieren, sich vor der Unterversorgung mit Sauerstoff durch vermehrte Bildung von „Straßen“, Blutwegen, zu retten, indem man Sauerstoffträger leichter dort hinbringen kann. Also VEGF ist der Vascular Endothelial Growth Factor, der vermehrt induziert wird durch HIF. Dieser Weg ist bekannt, aber viele andere leider noch nicht.

Axel Enninger: Und das ist der Grund, warum man unterstellt, dass Frühgeborene häufiger hypoxische Episoden haben und damit…

Peter Höger: So ist es, aber das ist, sagen wir mal, eine globale Annahme. Im Einzelfall muss man heute als Frühgeborenes, wenn man gut versorgt wird und nicht viele Komplikationen mitbringt, keine Hypoxie haben. Überzeugender für diese These ist die Beobachtung, dass segmentale, größere Flächen – anatomisch definierte Flächen – bedeckende Hämangiome, die wir zum Beispiel im Bereich des Gesichtes sehen, in einer ganz großen Mehrzahl der Fälle einhergehen mit ipsilateralen, zerebrovaskulären Anomalien. Das Gleiche ist der Fall bei großen, segmentalen Hämangiomen im Bereich der Extremitäten. Dort gibt es einen Zusammenhang zwischen der Lokalisation und dem Verlauf embryonaler, mutmaßlich persistierender Gefäße. Also scheint dort über diesen Zusammenhang eine unter Umständen verminderte Blutversorgung einzelner definierter Regionen in der Embryonalzeit eine Rolle zu spielen, durch Persistenz und sekundär funktionelle Unterversorgung mit Blut von embryonalen Gefäßen, oder durch primären Verschluss, oder Nicht-Anlage von Gefäßen – denn das ist es, was wir bei diesen zerebrovaskulären Anomalien finden. Das scheint ein Triggerfaktor zu sein für die Manifestation von Blutschwämmen: Hypoxie. Das können wir im Einzelfall nicht nachweisen. Wenn jetzt ein Kind mit einem Hämangiom im Bereich der Abdominalwand kommt, können wir nicht in irgendeiner Weise nachweisen, dass wahrscheinlich dort mal fokale Hypoxie bestanden hat.

Axel Enninger: Das heißt, wenn man extrapoliert, sind SGA-Kinder auch Risikokinder?

Peter Höger: Ja.

Axel Enninger: Auch aufgrund dieser Unterversorgung.

Peter Höger: Es ist nach wie vor nicht bekannt, welche vielleicht genetische Konstellation die Entstehung von Hämangiomen begünstigt. Man vermutet so etwas bei den segmentalen Hämangiomen, die eine ganz besondere Unterform der Blutschwämme darstellen, weil die eben genannten Gesichtshämangiome, die segmentalen, auch einhergehen können mit extrakraniellen Anomalien wie Sternalhypoplasie, Coarctatio aortae, anderen Vitien. Man vermutet eine genetische Disposition, es ist aber nicht bekannt, welche. Trotz wirklich intensiver Bemühungen kann man heute nicht wirklich definitiv erklären, warum Propranolol wirkt. Dass es wirkt, war ein Zufallsfund und niemand zweifelt daran, dass es wirkt. Aber auch hier ist der Mechanismus noch nicht ausreichend bekannt.

Axel Enninger: Das heißt, da ist irgendetwas, das ich nicht weiß. Da wird quasi ein Schalter umgelegt und dann passiert etwas. Wie entsteht dann das Hämangiom?

 

Beruhigen durch Glasspatel-Test: Hämangiome platzen nicht

Peter Höger: Was dann passiert – und zum Beispiel auch in Labormodellen durch diese HIF-Expression, gefolgt von der Glut-1-Expression, die den Zuckertransport in die Endothelzelle fördert, um ihr zu erleichtern, zu proliferieren – wenn dann das Signal, das ich schon nannte, VEGF kommt, dann fängt die Endothelzelle an zu proliferieren. Deswegen ist der Ausdruck „Blutschwamm“ gar nicht schlecht. Viele Eltern denken, dass dieses blutgefüllte Etwas, das da an der Hautoberfläche zu sehen ist, zu betrachten ist wie ein mit Blut gefüllter Luftballon, der jederzeit reißen kann. Das ist eine der Ängste, die man den Eltern gleich nehmen kann. Das demonstriere ich den Eltern häufig dadurch, dass ich einen Glasspatel sanft, aber beständig auf diesen Tumor drücke und den dadurch ausdrücken kann, ohne dass er platzt. Das tut dem Kind nicht weh, wenn ich das zeige. Aber es beruhigt die Eltern, die teilweise Angst haben, es überhaupt nur zu berühren oder dann Angst haben, dass das Kind dort anfassen kann und es zur Ruptur führt mit einer furchtbaren Blutung. Das ist nicht so. Also Hämangiome tun einiges nicht: Sie entarten nicht, sie wachsen nicht nach innen, über die Subkutis hinaus, wenn sie in der Haut lokalisiert sind, und sie platzen nicht. Das sage ich den Eltern immer. Das heißt aber nicht, dass nicht auch Blutschwämme in inneren Organen vorkommen können. Es ist überdurchschnittlich häufig der Fall, wenn man fünf oder mehr Hämangiome in der Haut hat, dass man auch Leberhämangiome hat. Deswegen empfehlen wir, wenn diese Zahl überschritten ist, eine Sonographie der Leber zu machen.

 

85 % der Hämangiome auf keinen Fall behandeln

Axel Enninger: Gehen wir noch einmal zurück zu unseren Omas. Da haben Sie gesagt, sie haben beide recht. Gehen wir mal zu der Oma, die gesagt hat: ‚Da müsst ihr was tun!‘ Wann müssen wir denn etwas tun?

Peter Höger: Wenn man mit drei Wochen sicher ist, dass es ein Blutschwamm ist und kein Feuermal – und das ist am Anfang häufig ganz schwer zu entscheiden – dann ist die Lokalisation Stirn zumindest eine, die wir weiter beobachten würden, weil sich eine Behandlungsindikation ergeben kann. Zwar liegt hier keine Obstruktion vor, aber das, was wir kosmetische Entstellung nennen. Bei allen zentrofazialen Hämangiomen auch außerhalb des unmittelbaren Augenbereiches sind wir eher großzügig zu behandeln. Das trifft zum Beispiel auch für Lippenhämangiome und auf Hämangiome der Nase zu, die zwar seltener obstruieren, aber häufig sehr lange persistieren und eine Verformung der Nase oder Lippe nach sich ziehen, sodass nach Rückbildung des Blutschwamms überdehnte Haut eine bleibende Entstellung dieses Gesichtsteils mit sich bringt. Man kann grob drei Arten von Hämangiomen unterscheiden, was die Behandlungsindikation anbetrifft. Es gibt solche, die muss man behandeln, und es gibt solche, die darf man auf keinen Fall behandeln. Letztere sind 85 %. Viele Eltern verlangen geradezu danach, dass man einen Blutschwamm behandelt, wenn er auf dem Bauch lokalisiert ist, weil er sie beunruhigt. Aber das ist keine Indikation für eine Therapie und auch keine Indikation für die Propranololbehandlung. Die, die unbedingt behandelt werden müssen, sind die, die schon obstruierend wirken. Ich habe Kinder bei Erstvorstellung gesehen mit einem schon nicht mehr zu öffnenden Lid. Hier ist schon damit zu rechnen, wenn es auch nur eine Woche oder zwei angehalten hat, dass es eine Einschränkung des Visus geben wird. Aber wenn wir dann rechtzeitig handeln und behandeln, dann haben wir gute Chancen, später mithilfe einer Sehschule, wo die Sichtigkeit der jeweiligen Augen durch Abdeckung der anderen Seite gefördert wird, haben wir eine gute Chance, dass wir das einigermaßen kompensieren können.

 

Obstruktion ist eine Behandlungsindikation, ansonsten Geduld und Dokumentation

Axel Enninger: Können wir das mal kurz festhalten? Also ein Hämangiom, auch wenn es ein kleines ist, am Augenlid ist ein Problem.

Peter Höger: Es ist ein Problem. Es ist eine unmittelbare Behandlungsindikation, wenn eine Obstruktion droht. Wenn die Lidöffnung asymmetrisch ist und das betreffende Lid schon kleiner als die Gegenseite, dann ist eine Indikation gegeben. Ich kenne aber auch Blutschwämme, die auf dem Oberlid lokalisiert waren, klein waren, keine Lidspalt-Differenz mit sich brachten, und die so blieben, die minimal wuchsen. Diese Kinder habe ich durch engmaschige Beobachtung letztlich davor – in Anführungsstrichen – „gerettet“, dass sie Propranolol bekamen. Das heißt Geduld ist wichtig und Dokumentation.

Axel Enninger: Das ist ja auch tatsächlich ein guter Punkt. Die Frage: Ist da eine Dynamik? Im heutigen Handyzeitalter ist es wahrscheinlich bei diesen Kindern kein Fehler, wenn ich einfach jede Woche ein Bild mache.

Peter Höger: So ist es. Das kann man in diesem Fall den Ärzten schicken, die dann sagen können: ‚Jetzt muss es aber in die Praxis kommen oder, wenn die Bilder entsprechend gut sind, scharf und genau das zeigen, was sie zeigen soll, nämlich wie weit ist eine Lidöffnung eingeschränkt, dann ist das ein absolut angebrachtes Mittel, die Zeit zu überbrücken, bis dann vielleicht das Hämangiom aus dem ‚gefährlichen‘ Alter, in dem es schnell wächst, heraus ist. Da gibt es ein paar Zahlenangaben, was die Dynamik des Wachstums betrifft.

Axel Enninger: Können wir noch mal bei den Lokalisationen bleiben? Also Augenlid habe ich verstanden. Andere Lokalisation, wo Sie sagen: ‚Passt auf, Leute‘?

 

Gesicht und bei Mädchen Brustbereich: immer relative Behandlungsindikation

Peter Höger: Nase und Lippe sind welche, die ich beobachten würde und generell alle, die im sichtbaren Gesichtsbereich sind. Mich beunruhigt keines, das im Bereich der später behaarten Haut – am Anfang sind ja noch kaum Haare da – auf der Kopfhaut lokalisiert ist. Das ist in aller Regel keine Behandlungsindikation, aber der sichtbare Bereich. Und dann gibt es noch zusätzlich die Indikation der unmittelbaren Brustregion beim Mädchen. Auch das wäre eine relative Indikation, wenn der Blutschwamm deutlich wächst, eine Behandlung durchzuführen.

Axel Enninger: Also sprich: Mamille.

 

Obligate Behandlung bei Augenbeteiligung und Ulzeration. Paratracheale oder laryngeale Lokalisation ist potenziell lebensgefährlich

Peter Höger: Mamillenregion, genau. Oder ein deutliches, subkutanes in dem Bereich – wäre beim Jungen kein Problem. Das könnte man ruhig aussitzen. Bei Mädchen würden wir das zumindest anbieten. Obligat Behandlung bei Augenbeteiligung in dem Sinne wie eben besprochen. Bei ulzerierten Hämangiomen, wo auch immer sie lokalisiert sind. Überdurchschnittlich häufig tritt die Ulzeration in den Hautfaltenregionen auf, also im Windelbereich, auch axillär manchmal. Es gibt aber Ulzerationen auch bei anderen Hämangiomen, sodass das auch eine weitere obligate Behandlungsindikation wäre. Und natürlich die paratrachealen oder laryngealen Hämangiome, die lebensgefährlich sein können und sich häufig im Alter häufig von 6 bis 10, 11 Wochen durch einen plötzlich einsetzenden Stridor zeigen.

Axel Enninger: Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, je ein ulzerierendes Hämangiom gesehen zu haben. Wie häufig ist das?

Peter Höger: Das ist eine typische Komplikation. Die Kinder landen dann einfach woanders. Sie landen beim Kinderchirurgen oder beim Hautarzt. Deswegen haben Sie sie nicht gesehen. Wie häufig ist das? Von den komplizierten Hämangiomen, das sind etwa 15 % aller Hämangiome – kompliziert gleich behandlungsbedürftig – ist es etwa 1/3 bis 1/4, die ulzerieren können.

Axel Enninger: Okay, doch so viele. Also in der Tat, die müssen an mir vorbeigeflossen sein. Okay. Aber das heißt, unsere Systematik bei den Hämangiomen lautet: „kompliziert“ und „unkompliziert“. Und „kompliziert“ bedeutet Behandlungsindikation.

Peter Höger: Kompliziert bedeutet erst einmal: gucken und unter Umständen gleich behandeln. Die Komplizierten sind die an den Problemregionen, von deren weiteren Entwicklung man sich dann überzeugen muss, wenn sie am Anfang klein sind. Wenn das Kind gleich mit einer Lidspalten-Differenz kommt, ist sofort eine Behandlungsindikation gegeben. Ebenso beim Ulzerierten. Aber bei dem vorhin schon genannten kleinen Hämangiom auf dem Oberlid oder auf der Nase oder auf der Lippe oder daneben können wir auch erst noch einmal zuwarten und das individuelle Wachstumsverhalten abwarten. Und da hilft uns das Handy wirklich sehr.

Axel Enninger: Okay, das heißt, die beobachte ich und wenn man das so anguckt: „kompliziert“ – dieses Thema der ästhetischen Beeinträchtigung. Das fällt wahrscheinlich auch darunter. Da könnte ich mir jetzt vorstellen, dass das eine gewisse Diskussion mit den Eltern auslöst, was ist kosmetisch störend und was nicht?

Peter Höger: Genau, wir haben neue Leitlinien, die von der Monatsschrift Kinderheilkunde im Frühjahr von Frau Dr. Lange, der Vorsitzenden der Leitlinienkommission, veröffentlicht worden sind. Da ist es so definiert, dass die, die im kosmetisch störenden Bereich sind, aber nicht obstruierend sind, mit den Eltern zu diskutieren sind. Wir würden da wirklich die Entscheidung der Eltern abwarten. Wir würden uns – so verfahren wir zumindest – nicht auf eine Diskussion einlassen, wenn ein Hämangiom außerhalb des Gesichtsbereichs oder des Brustbereichs beim Mädchen vorliegt. Dass dann dort eine Behandlung erfolgt, das ist eindeutig nicht erforderlich. Bei den Hämangiomen, die schon eine Obstruktion zeigen, ist es wiederum eine obligate, sofortige Behandlungsindikation – und bei den Ulzerierten.

Axel Enninger: Okay, dann bleiben wir jetzt mal bei den Unkomplizierten und gehen wieder zurück zu Oma 1. Also die Unkomplizierten entwickeln sich üblicherweise wie?

 

Zwei Kennzeiten: Mit 4 Monaten ist 80 % des Wachstums abgeschlossen, mit 4 Jahren 80 % der Rückbildung

Peter Höger: Ja, aufgrund der Häufigkeit kann man das statistisch sehr gut sagen. Da gibt es zwei wichtige Kennzeiten: Mit vier Monaten – korrigiertes Alter bei Frühgeborenen – ist 80 % des Wachstums abgeschlossen, das heißt, im Alter von vier Monaten kann man recht gut abschätzen, ob sich das Hämangiom, wenn es noch 20 % im Durchschnitt weiterwächst, wohl noch zu einem unansehnlichen, weil an einer problematischen Lokalisation befindlich, entwickeln wird oder eher nicht mehr. Die Hämangiome wachsen dann noch weiter, etwa wie gesagt 20 Volumenprozent bis zum Ende des ersten Lebensjahres und dann beginnen sie sich zurückzubilden. Das wird häufig von den Eltern missinterpretiert als ‚mit einem Jahr ist es ja weg‘. Mit einem Jahr hört es auf zu wachsen und bildet sich dann zurück! Die Rückbildung ist, je nach Endgröße, ein Vorgang, der sich über 2 bis 8 Jahre erstrecken kann. Bei großen Blutschwämmen kann es acht Jahre dauern, in denen sich noch etwas tut. Histologisch wird interessanterweise die Hämangiom-Stammzelle schrittweise umgebaut – ein und dieselbe Zelle – in einen Adipozyten. Das deckt sich mit dem klinischen Eindruck, dass sich der Blutschwamm bei einem 4-Jährigen anfühlt wie ein Lipom. Vier Jahre ist ein Stichwort. Am vierten Geburtstag ist 80 % der Rückbildung abgeschlossen. Auch dann kann man wieder extrapolieren und sagen: Was ich jetzt noch sehe, ist nicht der Endzustand, aber 80 % von dem. Zwanzig Prozent wird noch weggehen. Werde ich wohl, wenn ich in die Schule komme – deswegen ist vier Jahre so wichtig – zwei Jahre später dadurch ein kosmetisches Problem haben oder nicht? Zum Beispiel kann ein relativ großer Blutschwamm, auch wenn er sich wunderbar zurückbildet und zu Fettgewebe umgewandelt wird, die Haut so überdehnt haben, dass überschüssige Haut im Sinne einer Cutis laxa in einer Region bleibt. Hier gilt es zu überlegen, ob man tätig wird. Was könnte man machen? Man kann diskutieren – und häufig warten wir noch mal ein Jahr ab – ob man eine Exzision dieses Bereiches vornimmt oder, wenn im Vordergrund steht, dass persistierende Kapillaren das Ganze unansehnlich machen, ob man dann – und übrigens nur dann – eine Behandlung mit dem gepulsten Farbstofflaser durchführen würde.

Axel Enninger: Nur noch mal, um es festzuhalten, wir haben eine Regel, die lautet: Mit vier Monaten ist 80 % des Wachstums abgeschlossen und mit vier Jahren ist 80 % der Rückbildung abgeschlossen. Korrekt, das kann man sich ja gut merken. Und damit kann man ja Eltern auch gut gegenübertreten. Und das wiederum spricht ja tatsächlich dafür, dass es spontan rückläufig ist. Aber in der Tat, auch da erinnere ich mich an das eine oder andere Kind, wo man tatsächlich die Region noch sieht, und es fühlt sich ein bisschen weich, ein bisschen teigig an. Das mit den Adipozyten war mir nicht klar, aber finde ich, wenn man an die Tastbefunde denkt, unmittelbar einleuchtend. Das passt gut. Okay, also das sind sozusagen die Unkomplizierten. Und dann haben wir jetzt die Komplizierten. Da haben wir gesagt, da gibt es ganz scharfe Kriterien. Es gibt auch dieses Thema der kosmetisch störenden Beeinträchtigung, trotzdem Eingruppierung als kompliziertes Hämangiom. Und dann stelle ich noch fest, ob es eine Dynamik gibt, dann muss ich behandeln, oder?

Peter Höger: Ja.

Axel Enninger: Okay, wie mache ich denn das?

 

Orale Behandlung mit Propranolol

Peter Höger: Mittel der Wahl ist, wenn eine Behandlungsindikation gegeben ist, die orale Behandlung mit Propranolol. Das ist ein Betablocker, ein nicht-selektiver und ein lipophiler. Das ist sehr wichtig. Es ist der einzige Betablocker, der für diese Indikation zugelassen ist. Es gibt auch Nicht-Lipophile, die auch wirksam sind bei Hämangiomen, aber nicht zugelassen sind. Das ist wegen der Nebenwirkungen, auf die ich gleich noch komme, von Relevanz. Propranolol wird in einer Dosis von 1 mg/kg Körpergewicht begonnen. Die Therapie wirkt aber nicht in dieser Konzentration auf lange Sicht, sondern man sollte die Dosis nach einer Woche auf 2 mg/kg Körpergewicht und Tag erhöhen und diese Dosis alle vier Wochen an das Gewicht des Kindes adaptiert anpassen. Die Therapie ist zumindest nach dem vollendeten zweiten Lebensmonat in zwei Einzeldosen möglich. Wichtig ist, dass man diese Gabe strikt postprandial verabreicht, weil eine der Nebenwirkungen dieses Betablockers ist, dass es die Freisetzung von Glukose aus Glykogen blockiert, gleichzeitig aber alle vegetativen Symptome, die für eine Hypoglykämie sprechen, aufgrund der Eigenschaft des Betablockers abblocken, sodass diese Kinder eine schwere Hypoglykämie aus dem Nichts bekommen, ohne Vorzeichen. Und da gibt es einige Fälle beschrieben.

Axel Enninger: Und die erkenne ich nicht?

Peter Höger: Die erkennen Sie nicht.

Axel Enninger: Das heißt eindeutig nach dem Essen.

 

Immer nach dem Essen und nicht bei obstruktiver Bronchitis

Peter Höger: Nach dem Essen und um den Preis, dass man an einzelnen Tagen, wo das Kind nicht essen will – ein Säugling, der nicht essen will, ist eh ein Grund, ihn dem Kinderarzt zu zeigen – das Propranolol nicht gibt. Übrigens, wenn man das macht, sieht man innerhalb von Tagen, dass der Blutschwamm wieder anfängt zu wachsen. Ein anderer Grund für eine Pause wäre die obstruktive Bronchitis. Zum einen, weil Betablocker bekanntermaßen ja als Nebenwirkung beim Asthma gefürchtet sind, diesbezüglich negativen Effekt haben können. Aber vor allen Dingen deshalb, weil wenn wir mit einem Beta-Mimetikum inhalieren, wir durch Propranolol die Wirkung des Beta-Mimetikums blockieren und das Beta-Mimetikum wiederum den Betablocker blockiert. Daher ist eine Therapiepause während der Inhalationstherapie obligat.

Axel Enninger: Okay, tatsächlich guter Punkt. Eigentlich total einleuchtend. Ich gebe den Betablocker und ich brauche aber ein Beta-Mimetikum, üblicherweise im Herbst. Sicher einleuchtend, möglicherweise aber schon so, dass man es einfach im Eifer der Therapie vergisst, dass man ein Kind mit einer obstruktiven Bronchitis hat und da auch noch eine Behandlung eines Hämangiomes läuft. Sicher nochmal ein guter Memo-Punkt. Kann ich denn einfach so einen Betablocker geben? Ich gebe Betablocker und der Blutdruck rauscht in den Keller und ich werde bradykard…

Peter Höger: Das wollen wir alles nicht.

Axel Enninger: Also was mache ich?

Peter Höger: Darüber ist wirklich sehr lange, sehr intensiv unter Einbeziehung der Kinder-Kardiologen diskutiert worden. Die Dosis, die wir für Propranolol brauchen, ist erfreulicherweise 1/3 bis 1/4 so hoch wie die, die der Kinder-Kardiologe braucht, wenn er Betablocker einsetzt bei einer Kardiomyopathie oder bei dem seltenen Fall eines Bluthochdrucks des Kindes. Das heißt, wir sind schon mal vorab nicht in einem Blutdruck-gefährlichen Bereich. Und weil das so ist und weil Langzeituntersuchungen gezeigt haben, dass der Blutdruck im Durchschnitt um 4 mm HG sinkt unter der Betablockerbehandlung in dieser Dosis – und die Herzfrequenz übrigens im gleichen Maße um 4 Schläge pro Minute –hat man sich geeinigt, dass man – außer bei Frühgeborenen, die man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit halt auch behandeln muss – außer bei Frühgeborenen oder Kindern mit kardialen Risikofaktoren, zusätzlich ein Vitium etc., nicht blutdruckmonitoren muss. Nicht einmal vor Behandlungsbeginn. Das Einzige, was wir vor Behandlungsbeginn brauchen bei einem nicht-frühgeborenen, nicht-herzkranken Kind, ist ein EKG, weil es ganz selten einmal angeborene Rhythmusstörungen gibt, die wir nur mit dem EKG nachweisen können und die bei einer Substanz, die die AV-Überleitung blockieren kann, kontraindiziert wären. Das wäre eine Kontraindikation für Propranolol: eine Herzrhythmusstörung, und zwar eine potenziell bradykarde Herzrhythmusstörung, also eine AV-Überleitungsstörung und deswegen das EKG als einzige Voruntersuchung.

Axel Enninger: Okay, das heißt, ich brauche keine Blutdruckmessung vorher. Ich brauche auch in den ersten Tagen keine entsprechende Blutdrucküberwachung?

Peter Höger: Nein. Wir empfehlen, dass man idealerweise die Herzfrequenz des Kindes anderthalb Stunden nach der ersten Einnahme monitort, um auszuschließen – neben dem EKG, das vorher laufen muss – dass es überstark reagiert, und das Gleiche nach der Dosiserhöhung auf 2 mg noch einmal macht. Aber keineswegs jedes Mal, wenn wir dann einmal im Monat die Dosis anpassen.

Axel Enninger: Weil Sie sagen, wir spielen in völlig anderen Dosis-Regionen als der Kardiologe.

Peter Höger: Ja, so ist es.

Axel Enninger: Okay. Tatsächlich auch ein wichtiger Punkt.

Peter Höger: Das ist auch eine publizierte Übereinkunft. Da gibt es wirklich Dokumente, die belegen, dass es nicht nötig ist, den Blutdruck zu messen, was ja sehr aufwendig ist beim Frühgeborenen oder beim Säugling, Entschuldigung.

 

Übliche Behandlungsdauer ist 6 Monate

Axel Enninger: Aber das hilft ja schon mal. Wie schnell geht es dann? Wie lang mache ich das und was kann ich erwarten?

Peter Höger: Es gab es aus bestimmten Gründen eine Zeit lang einen Disput, ob man 2 oder 3 mg/kg geben soll. Zwei reicht absolut aus. Es ist nicht erwiesen, dass drei besser wirkt. Aber drei, und das ist erwiesen, macht mehr Nebenwirkungen. Deswegen sind wir für 2 mg/kg Körpergewicht. Wie lange macht man das? Das kann man recht gut beantworten. Im Rahmen der Zulassungsstudie vor acht, neun Jahren hat man gesehen, dass 1 mg/kg sicher nicht ausreicht und drei Monate Behandlung ebenfalls sicher nicht. Nach sechs Monaten ist das nicht-segmentale Hämangiom, also das Standard-, übliche, sogenannte fokale Hämangiom ausreichend behandelt. Sechs Monate ist die übliche Behandlungsdauer, außer wir müssen sehr früh anfangen, das heißt mit zwei Monaten, dann sind wir mit acht Monaten fertig und noch in einer Zeit, in der eine gewisse Restproliferation des Blutschwammes zu erwarten ist. Bei diesen Kindern sieht man relativ häufig Rezidive. Das ist ein Grund, dass manche Kollegen dazu übergegangen sind, dass, wenn sie vor dem fünften Monat beginnen müssen zu behandeln, dann gleich durchbehandeln bis zum ersten Lebensjahr, bis zum ersten Geburtstag. Dieser Empfehlung kann ich mich anschließen.

Axel Enninger: Das heißt als Faustregel: sechs Monate oder bis zum ersten Geburtstag.

Peter Höger: Jawohl. Es ist wichtig, dass man die Therapie beginnt, während der Blutschwamm noch wächst. Es wirkt nicht in einer Phase, in der der Blutschwamm bereits in die Ruhephase übergegangen ist und dabei ist, sich spontan umzuwandeln – wie vorhin gesagt – in Adipozyten. In dieser Phase hat Propranolol keinen Effekt mehr und belastet nur das Kind. Zu den Nebenwirkungen möchte ich noch sagen: Obwohl die Geschichten mit dem Blutdruck und der Bradykardie eigentlich am meisten zu erwarten sind, sind das die am wenigsten relevanten. Die ernsteste ist die genannte Unterzuckerung, die man vermeiden kann, wenn man es nur postprandial gibt. In der Stillzeit empfehlen wir: eine Brust, dann das Mittel, dann die andere. Später eine halbe Flasche und dann die andere halbe Flasche nach der Einnahme des Propranolol. Nicht vor dem Stillen geben, denn wir wissen am Ende nicht, wie viel Milch das Kind wirklich nimmt. Die Mutter muss das Gefühl haben, es ist schon Milch angekommen bei dem Kind. Nebenwirkungen, die häufiger sind, wenn auch harmlos, aber potenziell lästig, sind zum einen Durchfallneigung, was mit der Zuckerhaltigkeit zusammenhängen kann, und in etwa 15 bis 20 % nächtliche Unruhe. Das ist teilweise sehr eindrucksvoll. Wir kennen eine ganze Reihe von Zwillingspärchen, wo nur der eine zweieiige Zwillinge einen Blutschwamm hatte und plötzlich ein völlig verändertes Schlafverhalten aufwies. Ansonsten ist im ersten Lebensjahr das Schlafverhalten halt etwas, das sehr wechselhaft ist. Aber das kann man eben besonders gut beurteilen, wenn es sich ändert, und das war in diesem Fall sehr eindrucksvoll, dass nur der behandelte Säugling plötzlich nächtlich mehrmals wach wurde. Das hängt damit zusammen…

Axel Enninger: Kann ich das verstehen? Leuchtet mir erst einmal so gar nicht ein.

Peter Höger: Ja, es liegt daran, dass es eine lipophile Substanz ist und ein nicht-selektiver Betablocker. Das heißt, warum nehmen manche Schauspieler gegen Lampenfieber Propranolol? Weil es zentral wirkt und sie beruhigt. Und zwar nicht nur am Herzen, sondern zentral. Warum wird Propranolol zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung von Psychiatern eingesetzt? Weil es eine lipophile Substanz ist, die auch im Gehirn wirkt. Das ist die Erklärung.

Axel Enninger: Ich bekenne, habe ich noch nie gehört. Spannend.

Peter Höger: Aber das ist der Grund, warum wir eigentlich froher wären, wenn andere Betablocker zugelassen wären, von denen wir aus experimentellen Studien wissen, dass sie auch gegen Blutschwämme wirken. Aber da hat die Patent-haltende Firma die Hand drauf. Es werden keine anderen zugelassen, solange bis das Patent abgelaufen ist. Dann wird es wahrscheinlich leichter werden, Metropolol oder andere zu geben, die wirken. Die Frage, die oft gestellt wird: Ja, dazu gibt es Publikationen, die zeigen, dass sie auch wirken, aber ich setze sie nie ein, weil sie nicht zugelassen sind. Es ist ein kardiotropes Medikament, da würde ich jetzt nicht irgendwelche Experimente machen. Das bezieht sich übrigens auch auf die Lokaltherapie mit Betablockern, die auch viele ausprobiert haben und die nicht zugelassen ist. Es gibt eine Reihe wundersamer Rezepturen mit Propranolol: nicht standardisiert. Und immer wieder erlebt man es, dass Hämangiome mit Propranolol-Creme behandelt werden. Es ist nicht gesichert, dass diese Creme besser wirkt als die Spontanregression, die eben bei 99 % aller Blutschwämme eintritt. Was aber eine Gefahr ist, zumindest eine theoretische, dass durch einen hypervaskularisierten Tumor Propranolol auch transkutan aufgenommen werden kann, ohne dann den First-Pass-Effekt über die Leber zu erleben. Das heißt, wir geben dann Betablocker direkt ins Blut, ohne uns dessen bewusst zu sein. Das mag bei Propranolol ein kleines Problem sein. Es ist bei Timolol, das wir als Augentropfen kennen und das auch zugelassen ist für die Behandlung des kindlichen Hämangioms, und das deshalb häufig topisch eingesetzt wird, ein echtes Problem. Hier gibt es wirklich Berichte über Bradykardien bei Kindern, bei denen man es topisch eingesetzt hat. Timolol ist zehnmal so wirksam wie Propranolol und von daher ist das von Relevanz und ich empfehle…

Axel Enninger: Sozusagen Finger weg von topischer Anwendung?

Peter Höger: Ja, oder man muss sich dessen bewusst sein, und es ist komplett off label. Es gibt keinen Zweifel, dass es bei ganz flachen Hämangiomen eine gewisse Wirkung haben kann, das Timolol. Bei Propranolol bin ich mir nicht sicher, aber es kann resorbiert werden. Und da gibt es tatsächlich Fallberichte in der Literatur – es gibt ja auch in der Medizin gute und schlechte Journals und letztlich kriegt man jeden Mist publiziert – es gibt eine ganze Reihe von Timolol-Fallberichten oder Fallserien, wo drinsteht: ‚Wir haben niemals beobachtet, dass einer niedrigen Blutdruck hatte oder bradykard wurde.‘ Aber im Kleingedruckten steht dann, es wurde auch niemals systematisch der Blutdruck gemessen. Insofern glaube ich gerne, dass sie das nicht gemessen haben. Daher bin ich sehr zurückhaltend und das spiegeln auch die Leitlinien wider, die aktualisiert vorliegen, dass man sich vor der topischen Anwendung viele Gedanken machen sollte.

 

Ehemalige Frühgeborene genau überwachen, bei multifokalen Hämangiomen Lebersonographie

Axel Enninger: Okay, jetzt hatten Sie vorhin im Rahmen der Propranolol-Therapie gesagt, was wir an apparativer Diagnostik nicht brauchen. Gibt es denn Situationen, wo wir bei Patienten mit Hämangiomen andere apparative Diagnostik brauchen? Bei wem brauchen wir einen Schall? Bei wem brauchen wir andere Diagnostik? Worauf muss ich da achten?

Peter Höger: Ich möchte ausdrücklich sagen, von dieser Nicht-Erfordernis habe ich eindeutig Frühgeborene ausgenommen. Wir haben Situationen, wo wir sechs Wochen alte Kinder, ehemalige Frühgeborene, stationär mit Propranolol behandeln müssen. Bei Frühgeborenen in den ersten Monaten korrigiert, bis sie zweieinhalb, drei Monate korrigierten Alters haben, würde ich eine stationäre Einleitung empfehlen unter Monitorkontrolle, weil diese Kinder mit dem Blutdruck wirklich abseilen können bei dieser Dosis. Deswegen: Alles das gilt für die reifen Kinder nach dieser Altersgrenze. Was man sonst braucht, ist bei multifokalen Hämangiomen, wie sie heute heißen – früher hat man Hämangiomatose gesagt – bei multifokalen Hämangiomen, definiert als fünf oder mehr Hämangiome – mein Rekord liegt bei 106 – braucht man ein Ultraschall der Leber, weil es überdurchschnittlich häufig zu einer Leberbeteiligung kommt. Die meisten Leberhämangiome verhalten sich so wie die intrakutanen, das heißt, auch sie bilden sich von allein zurück. Man muss aber wissen, wie viele es in der Leber sind. Und da gibt es einmal sozusagen die fokalen Hämangiome der Leber, häufig auch ein Zufallsfund. Sie können auch ohne kutane Hämangiome auftreten, die haben keine funktionelle Belastung und bedürfen keiner Behandlung per se. Dann gibt es aber die miliare Durchsetzung des Lebergewebes durch Hämangiome und hier besteht ein dringender Behandlungsbedarf. Es gibt noch eine andere Komplikation bei multifokalen Hämangiomen und das ist – vielleicht überraschenderweise – eine sekundäre Hypothyreose. Hämangiomgewebe jeder Art bilden eine Dejodinase, und die kann dazu führen, dass man sekundär bei entweder sehr großen solitären Hämangiomen oder bei multiplen Kleinen, sekundär eine Schilddrüseninsuffizienz erleidet, die behandlungsbedürftig ist. Das heißt, man muss bei diesen Kindern mit multiplen Hämangiomen auch eine TSH-Bestimmung veranlassen und sich sicher sein, dass es Hämangiome sind. Es gibt ganz seltene Differentialdiagnosen, eine multifokale Lymphangioendotheliomatose MLT, die geht mit schweren Gerinnungsanomalien einher. Da gibt es eine Verbrauchskoagulopathie. Die sehen aber etwas anders aus, sind immer obligat und diffus in der Leber und da würde man zumindest die Thrombozyten gerne kennen und die Werte für D-Dimere und Fibrinogene – in diesen Sonderfällen.

Axel Enninger: Das heißt Hämangiomnachweis in der Leber, multifokal: Achtung, Achtung! An einzelner Stelle also Beobachtung und per se keine Behandlungsindikation.

Peter Höger: Per se nicht. Die Tatsache, dass in der Leber einzelne Hämangiome sind, ist keine Behandlungsindikation, aber ein Grund, die Schilddrüse zu untersuchen.

 

Segmentale Hämangiome des Gesichts

Axel Enninger: Okay, andere Untersuchungen, die wir in Sondersituationen noch brauchen?

Peter Höger: Ja, bei den segmentalen Hämangiomen des Gesichtes ist obligat eine Untersuchung – wegen der Möglichkeit zerebrovaskulärer Anomalien, zum Beispiel langstreckigen Stenosen von Gefäßen – ein MRT vor Behandlungsbeginn. Es sind einzelne Fälle berichtet von Hirnschlag, „Stroke“, bei so betroffenen Kindern. Daher möchten wir vor Beginn der Behandlung wissen, ob wir so etwas zu erwarten haben, wenn eine langstreckige Stenose vorliegt. Eine Aplasie ist schon embryonal entstanden, es gibt in der Regel Kollateralkreisläufe, das ist kein Grund. Wir verfahren bei diesen Kindern aber immer so, dass wir sie niedriger dosiert einleiten. Diese Kinder mit segmentalen Gesichtshämangiomen werden stationär aufgenommen, bekommen in dem Zusammenhang das MRT und bei denen fangen wir mit 0,5 mg/kg an zu behandeln. Das hat noch andere Gründe, die in der Besonderheit der segmentalen Gesichtshämangiome liegen. Das gilt nicht für segmentale Hämangiome der Extremitäten.

Axel Enninger: Also, das heißt bei segmentalen Gesichtshämangiome zerebrale Kernspintomographie, aber dann natürlich auch Behandlung bei Menschen, die etwas davon verstehen. Das ist natürlich…

Peter Höger: Ja, und man sollte wissen, dass es eben Anomalien der großen Gefäße geben kann. Atypischer Verlauf, Nicht-Abgang der Subclavia, Fehlabgang der Subclavia, Aortenbogen-Anomalien jeder Art, auch eine interessanterweise sekundäre Coarctatio aortae, die nicht kongenital ist, kann eintreten. Dann können die Patienten Augenanomalien haben. Bei Gesichtshämangiomen spricht man vom PHACE-Syndrom, ein Akronym für folgende Phänomene, die vorliegen können, aber nicht müssen: P steht für Veränderung der hinteren Schädelgrube „posterior fossa anomalies“, daher auch das MRT. H ist das Hämangiom, A steht für arterielle Anomalien, C für kardiale, E für Augenanomalien – Kolombome zum Beispiel – und S für Sternum-Anomalien. Wir kennen einige Kinder, die haben Sternum-Spalten, die man allerdings auch sieht. Daher die entsprechenden Untersuchungen bei solchen Besonderheiten. Wenn ich noch einen Satz sagen darf: Es gibt auch segmentale Hämangiome im Lumbosakral-Bereich. Auch die können assoziiert sein mit Fehlbildungen: der Harnwege oder des Anus. Entsprechende sonographische Untersuchung sind an der Lokalisation ebenfalls erforderlich.

 

Differentialdiagnosen

Axel Enninger: Jetzt hatten Sie ganz am Anfang, oder wir hatten es mehrfach gesagt, sind es in aller Regel gutartige Gefäßmalformationen. Gibt es dann auch bösartige Entartungen?

Peter Höger: Ja, das muss ich korrigieren. Das sind keine Malformationen, sondern Tumoren. Das ist ganz wichtig, denn die Differentialdiagnose sind Malformationen. Hämangiome sind immer gutartig. Die können dadurch unangenehm werden, dass sie obstruieren oder ulzerieren, aber sie bleiben und sind immer gutartig. Es gibt keine Entartung, aber es gibt Differentialdiagnosen. Eine Differentialdiagnose, die sich zu 65 % schon bei Geburt, spätestens im ersten Lebensjahr manifestiert, ist das kaposiforme Hämangioendotheliom.  Unterschied zum Hämangiom: Es ist bei Geburt in aller Regel – oder meistens schon –vorhanden. Es ist eine brettharte Induration, anders als dieser prall-elastische Tastbefund bei Blutschwämmen. Diese Induration geht über den sichtbaren vaskulären Bereich hinaus. Bei diesen Kindern ist proportional zur Größe des Tumors mit einer disseminierten Verbrauchskoagulopathie zu rechnen. Also hier Thrombozyten und Gerinnungsstatus wichtig. Das ist ein semimaligner Tumor, der lebensgefährlich werden kann und einer Behandlung, bei nicht Operabilität einer zytostatischen Behandlung bedarf.

Axel Enninger: Okay, das heißt, wenn ich bei der U2 schon etwas sehe, fasse es an und ich denke, es fühlt sich nicht so richtig typisch an, dann muss ich irgendwie hellhörig werden.

Peter Höger: So ist es, eine Sonographie machen und ein Diff-Blutbild, die Gerinnung gegebenenfalls, wenn wir an diese Differentialdiagnose denken. Die häufigste Abgrenzungsnotwendigkeit ergibt sich allerdings von vaskulären Malformationen, sprich angeborenen Erweiterung der Kapillaren, beim Naevus flammeus oder bei venösen Anomalien. Sie können zunächst aussehen wie ein Blutschwamm, haben aber ein anderes Wachstumsverhalten. Im Unterschied zum Blutschwamm sind sie im Prinzip in voller Ausbildung bei Geburt da und wachsen mit dem Kind mit, aber haben kein eigendynamisches Wachstum. Das ist für alle schwierig am Anfang zu sagen. Da wird man nach drei Wochen schlauer sein, wenn man das Kind wiedersieht, als wenn man es bei Geburt schon entscheiden muss. Mir fällt es auch schwer, häufig am ersten oder zweiten oder dritten Lebenstag zu sagen: Das ist sicher ein Naevus flammeus und sicher kein segmentales Hämangiom. Es ergibt sich dann in einer absolut ausreichenden Zeit von drei, vier Wochen, dass wir es sicherer sagen können.

Axel Enninger: Es bricht einem auch da kein Zacken aus der Krone, wenn man sagt: ‚Ich kann es momentan noch nicht einordnen.‘

Peter Höger: Genau.

 

Take a picture, Verlaufskontrollen, nicht lasern und Differentialdiagnosen sichern

Axel Enninger: Es gibt da eine gute Tradition in diesem Podcast und die Tradition lautet, dass der Gast gegen Ende des Gespräches zwei Dinge loswerden darf, die er positiv unter die Leute bringen möchte: „Do-Nachrichten“. Und zwei Dinge loswerden möchte, über die er entweder genervt ist oder vor denen er warnen möchte: „Don’t-Nachrichten“.

Peter Höger: Bei „Do“, das hatten Sie vorhin schon erwähnt: Es ist eines der wichtigsten Instrumente in der Entscheidungsfindung, ob man ein Hämangiom behandeln muss oder nicht, wie der Verlauf ist. Deswegen ist „Do“: „Take a picture!“ eine Botschaft. Man kann nicht oft genug – und jeder hat so ein Ding – mit seiner Handykamera ein Foto machen, gerade, wenn es sich um Blutschwämme an potenziell problematischen Regionen, wie im weitesten Sinne dem Gesicht, wenn es sich um solche Hämangiome handelt, sollten wir Gewehr bei Fuß stehen. Da gibt es eine Regel, wann man diese Verlaufskontrollen machen sollte: Alter des Kindes in Monaten ist Abstand der Untersuchung in Wochen. Das heißt, wenn wir ein drei Wochen altes Baby haben, dann sollten wir schon nach einer Woche gucken, was hat sich getan? Wenn das Kind aber schon drei Monate alt ist, dann reicht es, den Abstand der Kontrolluntersuchung, zum Beispiel durch ein eingeschicktes Foto, in drei Wochen zu machen. Da brauchen wir es nicht mehr wöchentlich, weil entsprechend die Gefahr, je älter das Kind wird, dass es doch ein behandlungsbedürftiges Hämangiom wird, nicht größer wird. „Do not“, das kann ich vor allen Dingen meinen dermatologischen Kollegen sagen: Immer noch gilt für manche, für einige, die Regel: ‚Ich habe da ein teures Lasergerät, also nutze ich es.‘ Die Laserbehandlung von infantilen Hämangiomen ist absolut out, komplett! Immer wieder erscheinen fragwürdige Artikel, die das Gegenteil mutmaßen. Es ist leider ein bedauernswerter Tatbestand, dass diese Leitlinien, die es nun schon lange gibt und die unverändert, seit es Propranolol gibt, sagen: Die Lasertherapie ist nur in den extremen Ausnahmefällen indiziert, in denen ein Kind Propranolol nicht verträgt. Es ist ansonsten durchaus indiziert bei Hämangiom-Residuen durch Kapillarektasien, die dann möglicherweise nicht mehr von allein verschwinden, aber kosmetisch störend sind. Lasern tut weh, das darf man nicht vergessen. Es zu machen in einem Bereich, wo ein Blutschwamm vorliegt, der ohnehin nicht behandlungsbedürftig ist, ist Kindesmisshandlung, Wenn ein Blutschwamm von alleine zurückgeht an einer unproblematischen Lokalisation, dann muss ich nicht mit Laser diese Rückbildung um ein paar Wochen vielleicht beschleunigen um den Preis, dem Kind Schmerz zuzufügen. Im Übrigen reicht meist nicht eine Behandlung. Also Laser ist out. Was ich noch als „Do“ sagen möchte, ist die Abgrenzung. eines Tumors, nämlich eines infantilen Hämangioms von einer vaskulären Malformation, ist wirklich wichtig. Und auch wenn sie am Anfang nicht ganz leicht ist, sie hat erhebliche Konsequenzen. Ich erlebe oft, dass Kinder mit Feuermalen mit Propranolol behandelt werden. Das ist unnötig und wirklich: Es ist erwiesen, dass es nicht wirkt. Man soll es nicht erneut versuchen. Man soll sich Gedanken machen, ob nicht als Differentialdiagnose des Hämangioms, nach dem Motto: Nicht alles, was rot und vaskulär ist, ist auch ein Hämangiom, es andere Erklärungen gibt für vaskuläre Anomalien, wie zum Beispiel die Malformation.

Axel Enninger: Herr Höger, vielen Dank!

Peter Höger: Sehr gern.

Axel Enninger: Wenn Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Dinge nachlesen möchten, können Sie das gerne tun in unseren Shownotes. Wir werden da sowohl die Leitlinie als auch den vorhin schon erwähnten Artikel aus der Monatsschrift verlinken. Sie sind dann herzlich eingeladen, das dort nachzulesen. Wir freuen uns über Kommentare, wir freuen uns über Weiterempfehlung und wir freuen uns auch über Bewertungen. Natürlich freuen wir uns besonders über positive Bewertungen, wenn Sie die loswerden wollen, und hoffen, dass Sie demnächst wieder mal zuhören, wenn es eine neue Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast gibt. Auf Wiederhören!

Peter Höger: Vielen Dank!

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

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