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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #16 - 09.09.2022

 

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

 

Vitamin D: Was ist Fabel und was fabelhaft?

 

Axel Enninger: Heute zu Gast: PROF. DR. CORINNA GRASEMANN

 


 

DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Sprecherin: consilium, der Pädiatrie-Podcast mit Dr. Axel Enninger.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gast heute ist Frau Professor Corinna Grasemann. Frau Grasemann ist Kinderärztin, Kinder-Endokrinologin, und sie leitet in der Universitätskinderklinik in Bochum das Zentrum für seltene Erkrankungen. Herzlich willkommen!

Corinna Grasemann: Vielen Dank!

Axel Enninger: Wir reden heute über ein Thema, das tatsächlich in aller Munde ist, über Vitamin D, Vitamin D als Supplement, Vitamin D als Stichwort „Allheilmittel“, Vitamin D als notwendiges Spurenelement. Alle reden darüber und man hat das Gefühl, es gibt eine Menge Halbwissen. Da wollen wir ein bisschen Aufklärung leisten. Starten wir mal ganz einfach. Wir alle haben einmal im Physiologieunterricht gelernt, dass Vitamin D wichtig ist. Was macht denn Vitamin D eigentlich bei uns?

 

Königsaufgabe Kalziumresorption

Corinna Grasemann: Vitamin D ist ein klassisches Steroidhormon. Das heißt, genau wie alle anderen Hormone wird es im Körper synthetisiert. Die wichtigste Aufgabe, die Vitamin D im Körper hat, ist, dass es die Kalziumaufnahme in den Körper ermöglicht und deswegen dazu führen kann, dass wir ausreichende Kalziumspiegel haben. Es gibt viele weitere Wirkungen von Vitamin D, die zum Teil gut erklärt sind, zum Teil nicht gut erklärt sind oder vielleicht auch in den Bereich der Fabeln gehören. Aber die Hauptaufgabe – und das ist mir auch schon das wichtigste Anliegen – von Vitamin D ist es, dafür zu sorgen, dass wir eine ausreichende Kalziumversorgung haben.

Axel Enninger: Wir können ja über die vorhin schon erwähnten Dinge gegen Ende des Podcasts nochmal sprechen, aber jetzt sprechen wir einmal über die originäre Vitamin-D-Aufgabe. Sie haben schon gesagt: Kalziumresorption aus dem Darm in den Körper – und was passiert dann?

Corinna Grasemann: Mit dem Kalzium?

Axel Enninger: Ja.

Corinna Grasemann: Das Kalzium wird an vielen Stellen benötigt, aber wird insbesondere im Knochen gespeichert. Etwa 1 % des Kalziums, das wir im Körper haben, ist zirkulierend, sodass wir es bestimmen können und über 99 % ist gebunden im Skelettsystem. Und hier haben wir so etwas wie eine Scheune. Wir haben Kalzium, das ist gelagert im Skelettsystem und kann da mobilisiert werden, kann da auch hingebracht werden und spielt da essenzielle Rollen für die Stabilität und die Festigkeit des Knochens, für die Mineralisation und für das Wachstum.

 

Bedarf beim Baby, Bedarf beim Erwachsenen – die Größenordnungen sind ähnlich

Axel Enninger: Dann ist ja immer die Frage, wie kriegt man sie denn voll, die Scheune? Da braucht man wahrscheinlich beides: Kalzium und Vitamin D. Wie viel brauche ich denn, in welchem Lebensalter? Fangen wir einmal mit dem Vitamin D an. Wir wissen wir alle, unsere Babys kriegen eine Vitamin-D-Substitution. Starten wir einmal mit den Babys und dann können wir uns durch die Lebensjahre hangeln.

Corinna Grasemann: Beim Vitamin D ist es recht einfach, weil der Bedarf relativ stabil ist. Bei Babys sagt man, dass sie 400 Einheiten täglich benötigen würden, bei Erwachsenen 600 bis 800 Einheiten täglich, die gebraucht werden, um einen ausreichenden Vitamin-D-Spiegel zu gewährleisten. Und beim Vitamin-D-Spiegel – wenn ich darüber spreche, dann ist der 25-Hydroxy-Vitamin-D-Spiegel gemeint; das ist das, was auch am häufigsten bestimmt wird, wenn man Vitamin-D-Spiegel bestimmt. Die Babys können diese Spiegel ganz gut erreichen, indem sie die empfohlene Vitamin-D-Prophylaxe bekommen, im ersten Lebensjahr mit 400 bis 500 Einheiten täglich und im zweiten Lebensjahr in den Wintermonaten. Über die Nahrung kann man den Vitamin-D-Bedarf tatsächlich nicht gut decken.

Axel Enninger: Aber eigentlich komisch, dass ein Baby mit so wenig Kilos Körpergewicht quasi 400 Einheiten braucht, und wir als Erwachsene brauchen nicht das Fünffache oder Zehnfache, sondern wir brauchen gar nicht so unendlich viel mehr. Wie kommt denn das?

Corinna Grasemann: Ja, das liegt daran, dass es eigentlich ums Kalzium geht. Und beim Kalzium ist es tatsächlich so, dass wir als Erwachsene viel mehr brauchen, nämlich das Fünf- bis Achtfache verglichen mit Babys. Und das Vitamin D brauchen Sie nur, um das Kalzium aus dem Darm tatsächlich aufzunehmen. Und da ändern sich die Spiegel, die benötigt werden, nicht so gravierend.

 

Das Who‘s who beim Vitamin D

Axel Enninger: Kommen wir noch mal zu den Spiegeln. Da haben Sie gesagt, wir bestimmen das 25-OH-Vitamin-D. Wir alle haben ja mal gelernt, es gibt den Vorläufer, dann gibt es 25-OH und dann gibt es 1,25-OH. Warum muss ich 25 bestimmen, wenn eigentlich das Wirksame das 1,25 ist? Das leuchtet mir nicht so richtig ein. Ich glaube, ich mache es richtig. Ich glaube, wir bestimmen das Richtige. Aber wieso ist das so?

Corinna Grasemann: Das ist so, weil das 25-Hydroxy-Vitamin-D die Speicherform von Vitamin D ist und Ihnen verrät, wie die Versorgung des Kindes, des Jugendlichen, ist, den Sie vor sich haben. Wenn es um die tatsächliche Wirksamkeit geht, dann ist natürlich relevanter, wie viel 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D Sie haben, aber die Hydroxylierung von 25- zu 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D läuft unter Stimulation von Parathormon. Das heißt, wenn Sie jemanden haben, der einen Vitamin-D-Mangel hat, der darüber einen Kalziummangel entwickelt, der bekommt einen sekundären Hyperparathyreoidismus und das führt zu einem deutlichen Anstieg der 1,25-Spiegel. Wenn Sie in so einer Situation nur 1,25 messen, dann messen Sie unter Umständen sogar zu hohe Werte, obwohl Sie jemanden vor sich haben, der einen ausgeprägten Vitamin-D-Mangel hat und deutlich erhöhte Parathormonspiegel.

Axel Enninger: Das heißt 1,25 zu bestimmen macht praktisch keinen Sinn. Jedenfalls in der klinischen Routine, im Alltag gibt es nur wenige Ausnahmen, wo 1,25 zu bestimmen sinnvoll ist, richtig?

Corinna Grasemann: Absolut. Es gibt ganz wenige genetisch bedingte Sonderformen, bei denen das sinnvoll sein kann oder nierenerkrankte Patienten oder Kinder und Jugendliche, die substituiert werden mit Calcitriol. Auch bei denen ist es natürlich sinnvoll, diese Spiegel zu bestimmen.

 

Normwerte und Einheiten

Axel Enninger: Dann bekomme ich ja Laborwerte und kriege ein Ergebnis. Je nach Labor kriege ich a) unterschiedliche Einheiten und b) kriege ich dann immer so eine Einschätzung in „ungenügende“, „hinreichende“ oder „ausreichende“ und „gute“ Vitamin-D-Versorgung. Wie sind denn diese Werte entstanden? Wenn man im klinischen Alltag guckt, hat man das Gefühl, da sind so viele, die unter diesen empfohlenen Spiegeln liegen, dass man sich eigentlich fragt: ‚Woher kommen denn eigentlich diese Normwerte?‘

Corinna Grasemann: Hm [bestätigend], das ist eine sehr wichtige Frage und die lässt sich auch gut erklären. Wir sollten danach gleich noch einmal auf die Einheitenfrage zurückkommen. Ich habe gesagt, wenn es um Vitamin D geht, geht es vor allen Dingen um die Kalziumversorgung und mit dieser Maßgabe sind auch die Vitamin-D-Zielwerte bestimmt worden. Das ist anders, als wir als Kinder- und JugendärztInnen es kennen. Da geht es nicht um Perzentilen und darum, wo ist die zweite Standardabweichung von der Normalbevölkerung, sondern man hat untersucht, welche Vitamin-D-Konzentration ist notwendig, damit der Mensch im Mittel genügend Kalzium mit dem Darm resorbieren kann. Und diese mittlere 25-Hydroxy-Vitamin-D-Konzentration liegt bei 16 ng/ml. Wenn man da die zweifache Standardabweichung raufrechnet, kommt man zum untersten empfohlenen Bereich mit 20 ng/ml oder 50 mmol/l. Jetzt sind wir schon mitten in der Einheitendiskussion. Die ist als unterer Normwert festgelegt worden, weil man weiß, dass wenn man diese Konzentrationen erreicht, dann nehmen die Menschen bei einer normalen Kalziumversorgung auch ausreichend Kalzium auf.

Axel Enninger: Das ist ja tatsächlich spannend. Wenn ich mit niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten über Vitamin-D-Substitution rede, dann höre ich sie relativ häufig sagen: ‚Na ja, meine Kinder liegen sowieso alle drunter und das ist doch irgendwie gar nicht sinnvoll und wahrscheinlich sind die Normenwerte einfach nur festgelegt.‘ Tatsächlich spannend und ich wiederhole es jetzt einfach noch einmal, ob ich es richtig kapiert habe. Es ist gemessen worden, wie viel Vitamin D ich denn brauche, um meinen Knochen eine ausreichende Kalziumversorgung zu gewährleisten. Und so sind diese Vitamin-D-Zielwerte quasi bestimmt worden.

Corinna Grasemann: Genau. So sind sie bestimmt worden und deswegen sind sie auch sinnvoll. Das bedeutet nicht, dass Kinder und Jugendliche, die Werte unterhalb dieses Zielbereichs haben, notwendigerweise einen Kalziummangel entwickeln. Das hängt davon ab, wie viel Kalzium sie mit der Nahrung aufnehmen. Kinder und Jugendliche, die zum Beispiel sehr viele Milchprodukte zu sich nehmen, können trotzdem auch bei eklatantem Vitamin-D-Mangel eine ausreichende Kalziumversorgung hinbekommen. Und Kinder und Jugendliche, die mit der Nahrung gar kein Kalzium zu sich nehmen, können auch bei guten Vitamin-D-Spiegeln trotzdem einen Kalziummangel entwickeln. Aber das sind sicher die Ausreißer nach oben und nach unten. Im Mittel ist es sinnvoll, diesen unteren Zielwert tatsächlich anzustreben, wenn man das Gefühl hat, die Kalziumversorgung könnte in Gefahr sein.

Axel Enninger: Aber das heißt, Vitamin-D-Spiegel zu interpretieren, macht ohne gleichzeitige Betrachtung der Kalziumzufuhr nicht so richtig viel Sinn.

Corinna Grasemann: Ja, da würde ich sogar noch weitergehen. Einen Vitamin-D-Spiegel zu interpretieren, macht nur Sinn, wenn man sich anamnestisch einmal mit dem Drumherum beschäftigen möchte, also mit der Kalziumversorgung, mit der Sonnenexposition, und macht laborchemisch auch nur Sinn, wenn man die relevanten Parameter direkt mitbestimmt. Sonst hat man den isolierten Wert. Der ist dann zu niedrig und dann weiß man nicht, wie man weitermachen soll.

Axel Enninger: Ich schlage vor, dass wir über das Kalzium gleich noch einmal reden. Jetzt haben Sie das mit der Sonnenexposition auch schon gesagt. Also, raus in die Sonne! Da gibt es eine Empfehlung der DGKJ [Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin], die – hach, ich will meinen Kollegen jetzt nicht auf die Füße treten – manchmal ein bisschen intellektuell klingt. „In der Mittagszeit unbekleidete Arme, draußen aufhalten.“ Kann man alles gut verstehen. Aber gleichzeitig haben wir Themen wie, es gibt helle und dunkle Haut. Es gibt Menschen, die langärmelige und kurzärmelige T-Shirts tragen. Es gibt Kinder, die viel Sonnenschutz auf der Haut haben und wenig Sonnenschutz auf der Haut haben. Machen Sie da mal einen pragmatischen Vorschlag für einen 10-Jährigen? Wie oft sollte der in der Sonne sein? Können Sie da etwas Pragmatisches empfehlen?

Corinna Grasemann: Ja, den gesunden Menschenverstand kann ich da sehr empfehlen. [Schmunzeln]

Axel Enninger: Das hilft ja häufig.

 

Im Winter in Mitteleuropa keine Vitamin-D-Bildung durch die Sonne – mit Ausrufezeichen!

Corinna Grasemann: Also, wenn man keine Sonneneinstrahlung hat, kann man kein Vitamin D machen. In Deutschland kann man aufgrund des Breitengrades zwischen Oktober und April sowieso kein Vitamin D über die UVB-Strahlung machen, weil der Einstrahlwinkel der Sonne nicht richtig ist.

Axel Enninger: Das können wir kurz einmal festhalten. Man hört es immer wieder: ‚Ja, ich gehe auch im Winter raus in die Sonne.‘ Das ist Unsinn in unseren Breiten, weil die Sonne so schief steht, da bilden wir gar kein Vitamin D. Lassen Sie uns das kurz festhalten, mit einem Ausrufezeichen!

Corinna Grasemann: Mit einem Ausrufezeichen! Da müssten Sie in südlichere Gefilde fliegen, damit das im Winter klappen kann. Wenn Sie von Kopf bis Fuß mit Bekleidung bedeckt sind, können Sie kein Vitamin D machen und Sunblocker verhindern effektiv, dass die Haut Vitamin-D-Vorstufen bilden kann. Das heißt, wenn der 10-jährige Junge mit 50er Sonnen-Block eingeschmiert durch die Gegend läuft, dann kann er kein Vitamin D bilden!

Axel Enninger: Auch im Hochsommer nicht.

Corinna Grasemann: Auch im Hochsommer nicht. Die pragmatische Lösung ist, wenn er zur Schule läuft im T-Shirt und zurück, und dabei scheint die Sonne auf ihn drauf, dann ist er im Sommer nicht gefährdet. Für uns Kinderärztinnen und Kinderärzte ist das eigentlich relativ leicht zu sehen. Wenn bei uns im Sommer ein Kind in die Sprechstunde kommt und es ist sommerlich gebräunt, dann ist es ausreichend in der Sonne, um Vitamin D zu bilden. Und wenn da jemand reinkommt, der käseweiß ist oder von Kopf bis Fuß verhüllt, dann lohnt es sich, einmal nachzufragen und Empfehlungen zu geben.

Axel Enninger: Okay, aber das gefällt mir. Ich stehe auf pragmatische Lösungen. Also, wer im Sommer so aussieht, als wäre er in der Sonne gewesen, ein bisschen brauner ist, als er im Winter ist, der ist erst einmal auf der sicheren Seite.

Corinna Grasemann: Ja, das denke ich schon.

Geringe Sonnenexposition hat vielerlei Gründe

Axel Enninger: Okay, das ist doch schon mal cool. Aber dann habe ich ein Problem mit Menschen, die dunklere Haut haben, oder?

Corinna Grasemann: Menschen, die dunkle Haut haben, stammen aus Gefilden, in denen die Sonne sehr viel mehr und mit einer längeren und stärkeren Einstrahlung strahlt. Und deswegen ist deren Haut darauf ausgelegt, einen früheren Schutz gegen diese viele Sonneneinstrahlung zu geben. Deshalb brauchen sie in unseren Gefilden mehr Zeit, um über die Haut ausreichende Vitamin-D-Spiegel zu machen. Aber auch sie bilden im Sommer in der Sonne Vitamin D.

Axel Enninger: Das heißt, wenn ich ganztägig verhüllt bin, ist mein Hauttyp sowieso egal. Hell oder dunkel, ganztägig verhüllt kann ich sowieso kein Vitamin D bilden. Das heißt, da gibt es schon eine klare Risikogruppe, nämlich diejenigen, die tatsächlich aus religiösen oder anderen Gründen ganztägig keine Sonnenexposition haben. Die sind Risikogruppe.

Corinna Grasemann: Die sind auf jeden Fall Risikogruppe. Die jungen Mädchen, die verschleiert oder gar vollverschleiert sind, gehören auf jeden Fall zur Risikogruppe. Tatsächlich gehört ein großer Teil der Migrantenfamilien aus mehreren Gründen zu den Risikogruppen. Das eine ist die Bekleidung, das andere ist die Ernährung. Hier gibt es vielfach eine kalziumarme Ernährungsform, die dann in Kombination mit einem Vitamin-D-Mangel schneller dazu führt, dass es einen relevanten Kalziummangel gibt und eine Rachitis und eine Osteomalazie entstehen können.

Axel Enninger: Verstehe ich, wenn man hier bei uns lebt. Wenn ich mir vorstelle, in Saudi-Arabien laufen sowieso alle Frauen verschleiert herum, haben die denn alle Vitamin-D-Mangel?

Corinna Grasemann: Ja, auch in Saudi-Arabien gibt es Vitamin-D-Mangel, allerdings deutlich weniger. Meines Wissens laufen sie auch nur in der Öffentlichkeit vollverschleiert herum, so dass da kulturell sicher zwischendurch Zeiten sind, wo die Frauen, wenn sie unter sich sind, auch eine Sonnenexposition haben. Da müssten wir vielleicht jemanden aus dem Kulturkreis fragen, die das besser beantworten kann. Es gibt aber Studien, die zeigen, dass auch in Saudi-Arabien der Vitamin-D-Mangel ein Problem ist.

 

Rachitis ist leider ein Thema

Axel Enninger: Ja, wahrscheinlich spielen auch Lebensformen in klimatisierten Räumen und so weiter wahrscheinlich eine Rolle. Okay, aber das ist jetzt nicht unser Hauptthema. Sie hatten es vorhin schon genannt, das Stichwort „Migrantenrachitis“. Ist es noch ein relevantes Thema? Sehen Sie das häufiger?

Corinna Grasemann: Ja, das ist ein relevantes und fast zunehmendes Thema, muss man leider sagen. Da würde ich die Kolleginnen und Kollegen auch gerne aufrufen, genauer hinzugucken. Die X-Beine bei Kindern aus Migrantenfamilien oder die Beinschmerzen können durchaus ein Hinweis darauf sein, dass Sie eine manifeste Rachitis vor sich haben. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, einmal anamnestisch nachzufragen oder Labor zu machen.

Axel Enninger: Jetzt wissen wir, dass dieser Podcast auch von vielen Assistenzärztinnen und Assistenten gehört wird, die noch nicht ihren Facharzt gemacht haben. Das können wir einmal kurz wiederholen: diagnostische Kriterien für eine Rachitis?

Corinna Grasemann: Die Rachitis ist eine Erkrankung der Wachstumsfuge und letztlich ist es eine Mineralisationsstörung an der Wachstumsfuge, die immer damit einhergeht, dass der Rest des Knochens auch eine Mineralisationsstörung hat. Die nennt man dann Osteomalazie. Das heißt, im Kindes- und Jugendalter tritt das immer beides gemeinsam auf. Wenn sich die Wachstumsfugen schließen, kann es keine Rachitis mehr geben, weil es keine Wachstumsfuge mehr gibt. Nachdem ich jetzt gesagt habe, dass die Erkrankung eine Erkrankung der Wachstumsfuge ist, ist der Nachweis eigentlich ein radiologischer Nachweis, sonst gibt es keine Möglichkeit, die Wachstumsfuge zu beurteilen. Laborchemisch ist die erhöhte…

Axel Enninger: Röntgen linke Hand, oder?

Corinna Grasemann: Röntgen linke Hand oder Röntgen Knie, je nachdem, was Ihnen da so entgegenkommt, was Ihnen besonders auffällig erscheint. Die Gelenke, die betroffen sind, die schwellen an. Das kann man sehen. In der Vollausbildung betrifft das sogar die Knorpel– Rippen-Übergänge, die dann geschwollen sind oder die Schädelkalotte, die zu weich bleibt bei kleinen Kindern. Im Röntgenbild kann man dann diese typische Aufbecherung sehen, die Unruhe in der Epiphysenfuge und die schlechte Mineralisation. Sie brauchen aber kein Röntgenbild, um eine Rachitis zu diagnostizieren, wenn Sie eine typische klinische Konstellation haben: dicke Gelenke, dicke Knie, Schmerzen beim Laufen und dann eine deutlich erhöhte alkalische Phosphatase. Dann würde dazugehören, dass Sie einen erniedrigten 25-Hydroxy-Vitamin-D-Spiegel und ein sekundär erhöhtes Parathormon finden. Dann haben Sie ziemlich sicher eine Rachitis vor sich.

Axel Enninger: Ich erinnere mich, als Assistenzarzt gab es das früher tatsächlich immer wieder einmal. Rachitischen Rosenkranz als klassisches, klinisches Feature habe ich ewig nicht mehr gesehen. Sind da die Zahlen so oder ist das nur meine Art und Weise, wie ich momentan Kinder angucke.

Corinna Grasemann: Nein. Es ist, denke ich, vor allen Dingen das Ergebnis der gut funktionierenden Prophylaxe im Säuglingsalter, dass wir in Deutschland sehr wenig Rachitis bei den sehr kleinen Kindern sehen, wo man den rachitischen Rosenkranz typischerweise gesehen hätte, gesehen hat. Manchmal sieht man das tatsächlich. Das, was wir am häufigsten sehen, sind dicke Knie, X-Beine, Deformitäten, die die Kinder aufweisen, geschwollene Handgelenke. Und typischerweise berichten die Mütter, dass die Kinder nicht laufen wollen, getragen werden wollen, wenn es eine schwere Ausprägung genommen hat, und nach dem Laufen über Schmerzen klagen. Das sind alles Symptome, die auf eine weit fortgeschrittene Rachitis der unteren Extremität hinweisen.

Axel Enninger: Okay, also noch einmal zusammengefasst: laborchemisch erhöhte alkalische Phosphatase, 25-OH-Vitamin-D niedrig, Parathormon hoch.

Corinna Grasemann: Ja, und da müssen Sie unbedingt Kalzium mitbestimmen und eigentlich auch Phosphat. Weil, gerade im Kleinkindesalter, wenn dieser Vitamin-D- und Kalziummangel schon länger besteht, es zu hypokalzämischen Situationen kommen kann, zu einer chronischen Hypokalzämie. Und je kleiner das Kind ist, desto gefährlicher ist eine chronische Hypokalzämie, weil das zu einer Kardiomyopathie führen kann, die dann mit abgeklärt werden muss.

Axel Enninger: Auch da gibt es ja immer so zwei „Labor-Enten“ – haushohe erhöhte alkalische Phosphate bei einem gesunden Kleinkind. Dazu müssen wir, glaube ich, einmal einen Kommentar machen. Und dann müssen wir, falls uns Allgemeinmediziner oder Internisten zuhören, einen Kommentar machen zu alkalischer Phosphate bei wachsenden, pubertierenden Menschen. Wollen Sie das einmal beides kurz kommentieren?

Corinna Grasemann: [Zustimmend] Die alkalische Phosphatase spiegelt, wenn man die gesamt-alkalische Phosphatase misst, zu großen Teilen den Knochenmetabolismus wider. Der ist bei Kindern und Jugendlichen vom Wachstum abhängig bzw. ist eng mit dem Wachstum korreliert. Die Phasen des stärksten Wachstums sind im ersten und zweiten Lebensjahr und dann mit dem pubertären Wachstumsspurt und entsprechend steigt in diesen Phasen des stärksten Wachstums die Aktivität der alkalischen Phosphatase. Wir haben da Werte, die sind dreifach höher als die oberen Normwerte, die im Erwachsenenbereich gelten. Das ist keine Erhöhung der alkalischen Phosphatase, sondern das ist für Kinder und Jugendliche einfach normal. Da braucht man kinderspezifische Normwerte.

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Sprecherin: Bevor es gleich spannend weitergeht, möchten wir Sie gerne auf unsere neue Lernplattform Wissen wirkt hinweisen. Dort finden Sie Lerninhalte wie Vortragsaufzeichnungen, unseren Podcast und unsere beliebten Zeitschriften erstmals gemeinsam an einem Ort und direkt verknüpft mit den dazugehörigen CME-Fragen. Die Lernplattform steht Ihnen übrigens auch als App für iOS und Android zur mobilen Nutzung zur Verfügung. Darüber hinaus möchten wir Sie gerne passend zum heutigen Thema auf das consilium Themenheft „Vitamin D“ von Herrn Professor Ringe hinweisen. Dieses und viele weitere interessante consilium Themenhefte sowie die spannendsten consilium Fragen und Antworten-Hefte finden Sie ebenfalls auf unserer neuen Lernplattform Wissen wirkt. Selbstverständlich können Sie aber auch die Printversion unserer Themenhefte sowie Fragen und Antworten-Hefte jederzeit unter servicematerial@infectopharm.com bei uns anfordern. Die erwähnten Links und E-Mail-Adressen finden Sie natürlich in den Shownotes dieses Podcast. Jetzt wünschen wir Ihnen aber zunächst weiterhin viel Freude mit dem consilium Pädiatrie-Podcast.

Ihr Team von InfectoPharm.

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Alkalische Phosphatase hoch? Oft transient und keine „irre seltene Erkrankung“

Axel Enninger: Lassen Sie uns das noch einmal wiederholen, denn sie laufen bei uns auch immer wieder einmal auf. Dann werden da Kinder geschickt mit Frage nach Knochenmetastasen oder so, weil das mit der alkalischen Phosphatase bei manchen Internisten so engrammiert ist. Also, der Teenie, der wächst, hat eine erhöhte alkalische Phosphatase – und das ist ganz normal.

Corinna Grasemann: Ja. Genau. Und dann hatten sie noch angesprochen, die transiente Hyperphosphatasie im Kleinkindesalter. Das sind ganz gesunde Kinder, bei denen im Rahmen einer Blutentnahme auf einmal eine alkalische Phosphatase von 1.500 Units/l oder Ähnliches auftritt. Die Genese dieser deutlich erhöhten alkalischen Phosphatase ist weiterhin so ein bisschen unklar, aber die Handlungsempfehlung ist relativ klar. Frühestens nach acht Wochen das nächste Mal kontrollieren und gucken, ob sie sich dann auf dem absteigenden Ast befindet. Das ist eine transiente Erscheinung, die keiner Behandlung bedarf und auch keiner hochfrequenten Blutentnahmen. Das muss man einmal wegkontrollieren und dafür muss man den Abstand weit genug wählen von der Erstabnahme, sonst kontrolliert man vielleicht gerade im aufsteigenden Ast. Da misst man beim ersten Mal 800, beim nächsten Mal 1.200 und dann landen die Kinder in der Universitätsmedizin, damit die „irre seltene Erkrankung“ gesucht wird. Aber bis sie dann einen Termin gekriegt haben, ist die „irre seltene Erkrankung“ auch wieder weg und nicht mehr nachweisbar.

Axel Enninger: Tatsächlich ein häufiges Phänomen, oder?

Corinna Grasemann: Ja.

Axel Enninger: Okay, das finde ich noch ein praxisrelevantes Thema: Erhöhte AP-Werte, die nichts mit Rachitis zu tun haben, wohl aber bei den Teenies natürlich mit erhöhtem Knochenstoffwechsel. Logisch.

Corinna Grasemann: Und der wichtige Zusatz ist da immer: Das sind gesunde Kinder, die haben keine Knochenschmerzen, die haben keine Beinfehlstellung, die haben auch keinen Hyperparathyreoidismus oder so etwas. Da ist alles gut, außer dass die alkalische Phosphatase erhöht oder normal hoch ist.

 

Risikogruppen

Axel Enninger: Jetzt hatten wir vorhin schon bei dem Thema Haut und Herkunft über Risikofaktoren gesprochen, einen Vitamin-D-Mangel entwickeln zu können. Es gibt ja noch andere Risikogruppen, auf die wir vermehrt achten müssen, dass sie ausreichend mit Vitamin D versorgt sind. Bei wem müssen wir da besonders wachsam sein?

Corinna Grasemann: Das ist eine schwierige Frage, weil es tatsächlich so viele Gruppen gibt. Also, wenn man es verallgemeinern wollte, müsste man sagen, jedes Kind mit einer chronischen Erkrankung. Nach KiGGS-Studie sind es ungefähr 17 % aller Kinder und Jugendlichen, die eine chronische Erkrankung haben. In der Gewichtung ist es sicher so, dass Kinder zum Beispiel mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen ein sehr hohes Risiko haben, Vitamin-D-Mangel zu haben. Das ist aber auch eine Gruppe, die meistens sehr gut verfolgt, kontrolliert und substituiert wird. Kinder und Jugendliche mit rheumatischen Erkrankungen brauchen adäquate Vitamin-D-Spiegel. Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen Erkrankungen, mit Depressionen sollten adäquate Vitamin-D-Spiegel haben. Bei Überlebenden einer Krebserkrankung im Kindesalter und natürlich auch während der Behandlung einer Krebserkrankung sollte man auf ausreichende Vitamin-D-Spiegel achten. Das heißt, die Palette der Kinder, die betroffen sind, ist relativ breit. Ganz häufig ist die Zöliakie zum Beispiel. Auch das ist eine Patientengruppe, bei der häufiger ein Vitamin-D-Mangel entsteht und bei denen der auch behandelt werden sollte. Die Migranten hatten wir schon genannt, die dazu gehören.

Axel Enninger: Die Gruppe der schwerbehinderten Kinder vielleicht noch. Die Immobilität ist ja auch oft noch ein Thema, oder?

Corinna Grasemann: Ja, Immobilität ist ein Thema. Und Immobilität ist aber auch schon ein Thema, bei dem es ein bisschen schwierig wird, weil man hier leicht in eine Situation kommt, in der es eine Kalziumüberversorgung gibt. Der Knochen bei immobilen Kindern wird nicht so gefordert wie bei mobilen Kindern und wenn der Knochen nicht so gefordert wird, dann braucht er auch nicht so viel Kalzium und er nimmt auch nicht so viel Kalzium auf. Das heißt, wenn Sie immobile Kinder haben, dann ist ein adäquater Vitamin-D-Spiegel passend. Ganz selten ist hier eine Kalziumsubstitution notwendig oder sinnvoll. Das führt häufig eher dazu, dass es einen Überschuss an Kalzium gibt, der dann renal ausgeschieden wird und das Risiko für eine Nephrokalzinose erhöht.

 

Bei chronisch kranken Kindern den Vitamin-D-Stoffwechsel mit im Blick behalten

Axel Enninger: Guter Punkt. Dann habe ich auch tief hinten in meinem Kopf noch etwas abgespeichert. Es gibt Interaktionen von Medikamenten und Vitamin D?

Corinna Grasemann: Ja, sehr viele.

Axel Enninger: Sehr viele. Okay, dann habe ich quasi das Engramm richtig gesetzt, aber ich könnte jetzt kein einziges nennen. Sie hatten vorhin schon gesagt, mehr oder weniger alle chronisch kranken Kinder sind Kinder, wo man gut aufs Vitamin D aufpassen sollte. Aber das heißt auch, grobes Schema: praktisch jeder, der dauerhaft Medikamente einnimmt, Stichwort auch Anti-Epileptika und solche Dinge?

Corinna Grasemann: Genau, Anti-Konvulsiva sind sicher die Medikamentengruppe, die am bekanntesten ist dafür, dass sie in den Vitamin-D-Stoffwechsel eingreifen. Es gibt aber viele Medikamente und Interaktionen, die störend sein können. Ich würde tatsächlich dafür plädieren, bei chronisch kranken Kindern den Vitamin-D-Stoffwechsel mit im Blick zu behalten und auch mit zu kontrollieren, wenn da das Risiko besteht, dass sie betroffen sein könnten.

Axel Enninger: Dann kommen wir jetzt einmal zum Partner des Vitamin D, zum Kalzium. Eine ausreichende Kalziumversorgung ist im ersten Lebensjahr, anders als beim Vitamin D, ja meistens relativ gut gewährleistet. Die Kinder werden gestillt, kriegen Kalzium oder sie kriegen Formula-Nahrung, die auch mit Kalzium angereichert ist. Dann kommen wir irgendwann zum Thema Zufütterung und Kleinkindernährung. Gibt es da Trends bezüglich des Kalziums? Bei Jugendlichen könnte ich etwas beisteuern, bei Kleinkindern wüsste ich es gar nicht so genau.

Corinna Grasemann: Kann ich auch nicht beisteuern. In meinem Gefühl ist es eher so, dass auf eine kalziumreiche Ernährung durchaus noch geachtet wird, dass zum Teil auch Formula weiter benutzt wird, um sicher zu gehen, dass die Kinder ausreichende Nährstoffe und eben auch Kalzium bekommen. Ganz selten hat man aber natürlich mal die Familie, die sich komplett vegan ernährt, wo auch das Kleinkind schon vegan ernährt wird mit unzureichenden Kalziumspiegeln. Diese Kinder sind allerdings dann häufig auch davon betroffen, dass sie keine Vitamin-D-Substitution mehr bekommen oder bekommen haben. Da sieht man zum Teil ganz schlimme rachitische Verläufe, wo auch alle Zähne mitbetroffen und in desolatem Zustand sind. Aber ich glaube, im Großen und Ganzen sind Kinder im Kleinkindalter noch relativ gut kalziumversorgt.

 

Kalzium-Versorgung bei Jugendlichen? Oft unzureichend und Jugendliche haben andere Symptome als Kleinkinder

Axel Enninger: Gut. Die üblichen Kalziumquelle, oft Milch und Milchprodukte. Aus pflanzlichen Produkten wissen wir, ist es eher schwierig. Jetzt haben wir zunehmend Kinder und Jugendliche, die sich vegan und vegetarisch ernähren. Da kann ich schon mal als Disclaimer vorneweg sagen, ich habe da durchaus Sympathien für die Teenies, die sagen: ‚Diese Art von Tierhaltung, die wir hier betreiben, oder häufig betreiben, die wollen wir eigentlich nicht und ich will mich daran nicht beteiligen. Ich ernähre mich vegetarisch.‘ Jetzt haben wir die Veggie-Studie in Deutschland gehabt, wo man aktiv um Teilnahme gebeten hat und dann mal geguckt hat, wie gut ernähren sich denn die Omnivoren, die Vegetarier und die Veganer mit Kalzium? Und da gab es für mich schon das erstaunliche Ergebnis, dass selbst die Omnivoren nur zu ungefähr 3/4, glaube ich, gut mit Kalzium versorgt waren. Die Vegetarier aber – hätte ich jetzt überhaupt nicht gedacht, da hätte ich gedacht, die sind mit Milchprodukten vielleicht noch gut versorgt – die Vegetarier nur zur Hälfte, die Veganer aber noch schlechter. Das heißt, da haben wir möglicherweise eine Generation von Jugendlichen, die ein Kalzium-Versorgungsproblem haben. Sehen Sie das klinisch auch schon?

Corinna Grasemann: Hm, selten. Die Ergebnisse dieser Studie haben mich tatsächlich auch sehr überrascht. Gerade bei den Vegetariern hätte ich einen Kalziummangel in der Ernährung nicht vermutet. Das ist sicher ein Problem. Die Jugendlichen, wenn sie einen Kalziummangel haben, präsentieren sich mit ganz anderen Symptomen als Kleinkinder. Sie haben keine Symptome einer Rachitis, sie berichten häufig unspezifische Symptome: Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Konzentrationsmangel, unspezifische Schmerzen, die überall sind, die man nicht so gut lokalisieren kann. Und das sind, das wissen wir alle, natürlich Symptome, die sind relativ häufig im jugendlichen Alter. Und dann ergibt es Kombinationsfragestellungen: Ist das ein Vitamin-D-Mangel? Ist da die Schilddrüse vielleicht nicht in Ordnung? Kann man da etwas dran machen oder ist das ein normaler Jugendlicher, der keine Lust hat, andere Interessen hat und sich nicht so gut fühlt?

Axel Enninger: Da können wir kurz auf den Schilddrüsen-Podcast, auf die Folge, verweisen. Da hatte ich mit Ihrem Kollegen Heiko Krude gesprochen, der auch gesagt hat: ‚Also wenn man da so einen trägen Teenie hat, da lohnt es sich durchaus mal, Schilddrüsenwerte mit zu bestimmen.‘ Das ist jetzt gar nicht unser Thema, aber das war ein bisschen unterstützend zu dem, was Sie auch gesagt haben. Es lohnt sich durchaus, da einmal hinzugucken.

Corinna Grasemann: Genau, das lohnt sich durchaus. Wenn Sie die Nadel sowieso in den Jugendlichen versenkt haben, dann können Sie auch den 25-Hydroxy-Vitamin-D-Spiegel mitmachen und gucken, ob vor Ihnen jemand sitzt, der vielleicht einen schweren Vitamin-D-Mangel mit Kalziummangel entwickelt hat. Die Jugendlichen, wenn wir sie nicht finden, manifestieren dann sehr spät. Das sind sehr, sehr lange Verläufe und gelegentlich tatsächlich mit hypokalzämischen Krampfanfällen. Und das ist immer „die letzte Wiese“. Das ist das Zeichen dafür, dass das Skelettsystem zu weiten Teilen entmineralisiert ist, kein Kalzium mehr zur Verfügung stellen kann und es zu einer absoluten Kalzium-Mangelsituation gekommen ist. Wenn Sie so etwas haben, wenn Sie solche Jugendlichen betreuen, dann brauchen die sehr lange eine Therapie, weil es da ein großes Skelettsystem gibt, das lange Zeit braucht, um wieder vernünftig zu mineralisieren.

Axel Enninger: Und jetzt, sozusagen die kleine Kinder-gastroenterologische Nebenbemerkung: Wichtig ist bei den pflanzenbasierten Milchersatzprodukten darauf zu achten, dass es eben kalziumangereicherte Produkte sind. Das sind nicht alle. Da muss man sehr, sehr genau darauf achten, wenn man im Supermarkt Hafer-, Reis-, Soja- oder jetzt neuerdings Erbsen-basierte Produkte kauft. Man muss darauf achten, dass sie kalziumangereichert sind. Ein Liter Milch enthält üblicherweise 1.200 mg Kalzium pro Liter. Die meisten substituierten Produkte sind genau so angereichert, insofern ist das erst einmal in Ordnung. Aber, und jetzt kommt das große „Aber“: Seit es eine neue EU-Bio-Verordnung gibt, sind mit aktuellem Stand Sommer 2022 die Bioprodukte nicht mit Kalzium angereichert. Das heißt, ich habe da ein Problem, wenn ich pflanzenbasierte Milchersatznahrung nehme und Bioqualität wähle, habe ich da kein Kalzium drin. Das ist wirklich wichtig, dass man darauf achtet. Auch bei seinen Teenager-Patienten oder auch bei den stillenden Müttern unbedingt darauf achten, wenn sie sich mit diesen Produkten ernähren. Kleine Nebenbemerkung des Kinder-Gastroenterologen.

Corinna Grasemann: Ja, da kann man auch noch weiter dran ausbauen, weil auch die Versorgung der Mineralwässer mit Kalzium unglaublich divergent ist und es gibt kalziumarme und kalziumreiche Möglichkeiten, sich mit Wasser zu versorgen. Für alle, die kein Kranwasser trinken, ist auch das eine sehr gute Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass es eine gute Kalziumversorgung gibt. Jetzt ergibt sich natürlich die Schwierigkeit, dass man in der kinderärztlichen Sprechstunde nicht fragen kann: ‚Was für Mineralwasser trinken Sie? Und ist es immer das Gleiche und welche Hafermilch haben sie eigentlich gekauft?‘ Also da ist, glaube ich, sowohl der gesunde Menschenverstand notwendig als auch eine gewisse einfache Aufklärung der Eltern oder der Kinder und Jugendlichen, dass man sagt: ‚Achte darauf, dass du genug Kalzium kriegst, dreh das mal um und guck, ob da genug drauf ist.‘

Axel Enninger: Im Zweifelsfall Ernährungstherapeuten mit einbeziehen. Bei dem kalziumreichen Mineralwasser, auch da wichtig: Es nützt relativ wenig, es zwischen den Mahlzeiten zu trinken, weil das Kalzium sonst einfach durchrauscht. Kalziumreiches Mineralwasser zu den Mahlzeiten wird langsamer in den Magen–Darm-Trakt geschickt und deswegen ist die Resorption besser. Also einen Liter kalziumreiches Mineralwasser einfach so zwischendurch stellt wahrscheinlich keine ausreichende Kalziumversorgung sicher. Gut darauf zu achten, dass man die richtige Firma kauft, aber es ist komplizierter, als man so denkt. Frau Grasemann, wir haben uns im Vorfeld überlegt, wir wollten auch einmal noch drei Fallbeispiele besprechen und ich habe gedacht, jetzt fangen wir mal an mit Janina. Janina ist vier Jahre alt und Janina ist typisches Kindergartenkind. Die Mutter kommt und sagt, sie hat ständig Infekte und ist ständig krank und müde. Erster Impuls des Kinder- und Jugendarztes ist: ‚Naja, sie geht in den Kindergarten. Sie holt sich halt den üblichen Kindergartenschnupfen.‘ Wenn jetzt die Kinder-Endokrinologin dazu gefragt wird, ist das ein Grund, Richtung Kalzium und Vitamin D zu gucken?

Corinna Grasemann: Nein. Der Vitamin-D-Mangel als solcher macht sicher keine gehäuften Infekte. Wenn es da keine weiteren oder harten Hinweise gibt, dass es ein Problem geben könnte, ist das kein Grund.

Axel Enninger: Okay, also Infektanfälligkeit erst einmal nicht. Gilt das fürs ältere Alter auch? Also auch für den Teenie?

Corinna Grasemann: Bis gerade hätte ich ja gesagt, das gilt immer. Jetzt habe ich gerade gelesen, dass wir für die Anfälligkeit von COVID-19-Erkrankungen und dem Schweregrad vielleicht doch Hinweise darauf haben, dass Vitamin D da eine Rolle spielen könnte. Aber, nein. Wenn Sie eine Abklärung machen für Infektanfälligkeit, dann gehört Vitamin D da meines Erachtens nicht hinein.

Axel Enninger: Okay. Umgekehrt, wenn man diese COVID-Daten betrachtet und dann gibt es auch zu chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Daten: Vor allem gibt es Assoziationen zwischen niedrigen Spiegeln und dem Krankheitsrisiko, sodass man da sagen würde, allein prophylaktisch ist es sowieso schon gut, das zu befolgen, was wir vorhin schon gesagt haben, nämlich auf gescheite Vitamin-D- und Kalziumversorgung zu achten, um gar nicht in so einen Kalziummangel, so einen Vitamin-D-Mangel, hineinzulaufen. Jetzt hatten Sie vorhin schon das quasi „täglich Brot“ des Kinder-Gastroenterologen erwähnt: Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Vitamin D nachgucken? Kalzium nachgucken?

Corinna Grasemann: Ja, unbedingt.

Axel Enninger: Okay, machen wir auch.

Corinna Grasemann: Ja.

Axel Enninger: Da sind wir tatsächlich relativ pingelig. Es gehört zu jeder Routineblutentnahme, jeder Labor-Verlaufskontrolle. Da gucken wir immer danach. Ist es denn… Also ich mache es tatsächlich so, dass ich im Sommer weniger substituiere als im Winter. Da würden Sie auch sagen, das ist okay?

Corinna Grasemann: Machen Sie das nach Labor? Also nach Labor ist das sowieso okay. Und ansonsten kann man sich bei eher gesunden Kindern oder wenig betroffenen Kindern auch überlegen, dass man nur im Winter substituiert und im Sommer nicht. Aber da muss man eine Idee haben, wo man sich ungefähr bewegt und wie die Spiegel ungefähr sind.

Axel Enninger: Es ist ja auch tatsächlich die Interpretation der Vitamin-D-Spiegel im Laufe des Jahres eine gewisse Herausforderung. Wenn man sagt, ich habe jetzt hier jemanden im März und der hat seine Vitamin-D-Substitution ordentlich durchgeführt und hat, nehmen wir mal, 1.000 Einheiten genommen, hat damit einen ordentlichen Spiegel im März. Dann ist für mich immer ein bisschen die schwere Abschätzung, braucht er jetzt gar kein Vitamin D im Sommer oder braucht er vielleicht noch ein bisschen was mit seiner chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen? Und ich bekenne, ich mache das von der Krankheitsaktivität abhängig, davon, ob er Sport macht oder nicht, welchen Sport er macht. Und ich variiere das ein bisschen. Eine ganz feste Regel habe ich nicht.

Corinna Grasemann: Ja, das ist sicher in Ordnung und das ist natürlich auch Ihrer Erfahrung geschuldet, dass Sie das so machen können. Im Zweifel schaden Sie ihm auch nicht, wenn Sie ihm 500 oder 1.000 Einheiten Vitamin D auch über den Sommer geben. Und dass Sie tatsächlich jemanden im März mit einem guten Spiegel finden, der so eine gute Adhärenz hatte, das ist ja schon sensationell, weil ich glaube, dass die Adhärenz mit Vitamin D nicht so wahnsinnig gut ist.

Axel Enninger: Ja, wohl wahr. Kurz, das schiebe ich jetzt einfach ein, die Mutter des Crohn-Patienten fragt: ‚Ist es denn gut, wenn ich Vitamin D einnehme?‘ Also gesunder Erwachsener Vitamin D im Winter?

Corinna Grasemann: Wenn man den Studiendaten glauben darf und das darf man, denke ich, dann haben 63 % der Kinder und Jugendlichen, bis zu 75 %, wenn man zum Beispiel sich die Mädchen anguckt, im Winter einen Vitamin-D-Mangel. Bei den Erwachsenen ist es genauso. Wenn die Mutter über die Wintermonate 500 oder 1.000 Einheiten Vitamin D nehmen kann und möchte, dann macht sie da sicher nichts falsch.

Axel Enninger: Nehmen Sie Vitamin D ein?

Corinna Grasemann: Ja, so unregelmäßig, wie die Jugendlichen das auch tun.

Axel Enninger: Mache ich auch so, in der Tat. Jetzt hatten wir mehrfach und haben jetzt auch immer wieder Kinder, die nach Deutschland eingewandert sind, also Kinder, die entweder frisch hergekommen sind, Kinder von Geflüchteten, die gerade in Deutschland sind. Macht es da Sinn, nach Vitamin D zu gucken?

Corinna Grasemann: Unbedingt. Das ist, glaube ich, die Risikogruppe schlechthin, die wir im Moment haben. Wenn man da Kalzium, Vitamin D und Parathormon sich anguckt, findet man häufig schwere Formen von Rachitis. Da möchte ich auch dringend empfehlen, die Geschwisterkinder einzubestellen und mit zu untersuchen, weil da natürlich oft die ganze Familie betroffen ist und es tatsächlich ganz schwere Verlaufsformen gibt. Das ist angesichts der Tatsache, wie leicht das zu behandeln ist, wirklich eine Katastrophe.

Axel Enninger: Sehr gut. Es gibt ja eine Tradition in diesem Podcast und die Tradition lautet, dass der Podcast endet mit zwei oder drei Dos oder Don ‚ts. Da darf der Gast, der Gesprächspartner, die Gesprächspartnerin Dinge loswerden, die sie unbedingt positiv empfehlen möchten, aber auch Dinge loswerden, die sie nerven und wo sie sagen würde: ‚Liebe Kollegen, bitte lasst doch das mal sein in Zukunft.‘ Wie Sie starten, ist egal. Sie dürfen loslegen.

 

Vitamin-D-Probleme mit dem gesunden Menschenverstand lösen; wenn Laborabklärung, dann richtig. Auf Risikogruppen achten und Hypokalzämie ernst nehmen

Corinna Grasemann: Super. Dann fange ich mit den Dos an und die Dos sind: Die Vitamin-D- Probleme kann man mit dem gesunden Menschenverstand lösen. Und deswegen möchte ich dringend dafür appellieren, in einer kurzen Anamnese herauszukriegen, wie ist die Ernährungssituation? Sind sie draußen? Bewegen sie sich? Habe ich überhaupt jemanden vor mir, der ein Risiko hat für einen Vitamin-D-Mangel oder ist das nicht so? Und mein zweites Do wäre: Wenn Sie Vitamin D abklären wollen, dann klären Sie das laborchemisch direkt richtig ab. Einen isolierten 25-Hydroxy-Vitamin-D-Spiegel zu messen, ist in den allerseltensten Fällen sinnvoll. Wenn Sie glauben, Sie haben jemandem mit einem relevanten Problem vor sich, dann brauchen Sie Parathormon. Sie brauchen die alkalische Phosphatase und Sie brauchen Kalzium und Phosphat. Und wenn ich zu den Don‘ ts gehen darf: Dinge, die wirklich nerven, gibt es eigentlich nicht so viele. Ich glaube, die Risikogruppen zu übersehen, ist ein Problem. Also bei den Migrantenfamilien genauer hinzugucken, würde ich dringend empfehlen. Und die Hypokalzämie muss unbedingt ernst genommen werden. Wenn Sie Kinder und Jugendlicher mit einer Hypokalzämie sehen, dann muss das dringend therapiert werden. Und auch da gilt: Da muss man genauer hingucken, sich die Geschwister angucken und sehen, dass man es behandelt bekommt.

Axel Enninger: Okay. Vielen, vielen Dank, Frau Grasemann. Es hat mir viel Spaß gemacht. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir können ja ruhig verraten, dass wir diesen Podcast im Sommer aufgenommen haben und ich glaube, wir dürfen jetzt rausgehen und mal gucken, dass wir selber ein bisschen was für unseren Vitamin-D-Tank tun. Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, danke ich fürs Zuhören. Wir hoffen, dass Sie etwas aus diesem Podcast mitnehmen konnten. Wie immer freuen wir uns erstens, wenn Sie die Shownotes lesen, wo wir die wesentlichen Leitlinien der Fachgesellschaften verlinken. Und wir freuen uns, wenn es Ihnen gefallen hat, natürlich auch über eine positive Bewertung und dass Sie unser Abonnent bleiben. Vielen Dank und auf Wiederhören.

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

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