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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #19 - 11.11.2022

 

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

 

Weg mit den alten Mythen

 

Axel Enninger: Heute spreche ich mit: DR. Stephan Illing

 


DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein heutiger Gesprächspartner ist mein langjähriger Kollege Dr. Stephan Illing. Herr Dr. Illing ist ein ganz, ganz, ganz erfahrener Kinder- und Jugendarzt und ein Kinderpneumologe. Und wie gesagt, ein ganz langjähriger Kollege von mir. Er ist jetzt nicht mehr klinisch bei uns im Olgahospital tätig, war aber lange Jahre sozusagen eine der riesigen Stützen. Stephan, herzlich willkommen!

Stephan Illing: Ja, Axel, vielen Dank!

Axel Enninger: Wir haben gedacht, dass wir ein bisschen aus dem Fundus der alten, erfahrenen Kinder- und Jugendärzte graben oder ein wenig daraus plaudern wollen. Denn uns beiden liegt es durchaus am Herzen, alte Zöpfe abzuschneiden und immer wieder einmal zu überlegen: Warum machen wir denn das eigentlich? Und ist es noch schlau, Dinge weiter zu tun, nur weil wir sie schon immer so gemacht haben? Also, das Stichwort heißt „Mythen“, und wir wollen mit ein paar Mythen aufräumen und haben gedacht, dazu ist es wahrscheinlich gar nicht schlecht, wenn wir hier, ich sag mal gemeinsame mindestens 50 Jahre Berufserfahrung – wahrscheinlich sind es noch ein bisschen mehr – mal zusammenwerfen und überlegen, was uns denn wichtig ist, welche Mythen wir beenden. Also ich freue mich sehr, Stephan.

Stephan Illing: Ja. Ganz meinerseits!

Normal, dass nach den Schulferien die Infekte wieder kommen

Axel Enninger: Lass uns mal, ganz passend zur Saison, starten mit dem Thema „banale Luftwegsinfekte“. Es wird momentan kälter. Die Schule hier in Baden-Württemberg hat vor ein paar Wochen wieder begonnen und dazu kann ich immer nur Dr. Illing zitieren, der immer sagte: ‚Naja, 2 bis 3 Wochen nach Beginn der Schule geht es wieder los mit den Infekten.‘ Und wie so oft hattest du auch dieses Jahr wieder recht, Stephan. Also hier geht es wieder los und ich mache einfach mal den Aufschlag mit der Mutter des 4-jährigen Kindes, die jetzt wegen der fünften Bronchitis, Luftwegsinfekt, in der Notaufnahme steht und sagt: ‚Und immer noch verordnet mein Kinderarzt mir kein Inhalationsgerät.‘ Stephan, inhalieren und Luftwegsinfekt?

Stephan Illing: Naja, das war tatsächlich eine ganz häufige Übung. Ich habe selber, ich muss mich dazu bekennen, ganz viele Inhalationsgeräte aufgeschrieben. Nicht nur, weil die Mütter das wollten, sondern weil es damals in gewisser Weise Standard war. Man hatte das Gefühl, wirklich das Gefühl, dass die Inhalation den Kindern hilft, schneller mit ihren Infekten fertig zu werden. Und man hatte vielleicht sogar auch ein bisschen die Meinung, dass es dann weniger Infekte geben wird. Das hat sich beides als ziemlich unrichtig erwiesen. Wir helfen dem kleinen Fridolin tatsächlich überhaupt gar nicht, wenn wir ihn jetzt bei jedem Infekt zwei-, drei-, vier- oder x-mal inhalieren lassen. Das ist eine Beschäftigungstherapie für die Mama. Sie hat das Gefühl, sie tut etwas. Da sind wir wieder bei „Gefühl“ und nicht bei „Wissen“. Dem Kind hilft das tatsächlich objektiv gesehen nicht. Also ein ganz normaler Atemwegsinfekt wird bei einem sonst gesunden Kind von selber ausheilen. Wir brauchen keine Therapie. Dass Atemwegsinfekte jetzt wiederkommen, das ist ja völlig normal. Ich meine, im Sommer sind die Familien einzeln unterwegs gewesen, viel im Freien, viel Platz dazwischen. Und jetzt ist man in der Schule, in der Kita oder sonst wie wieder zusammengepfercht. Da kommt der Infekt wieder. In Kanada, wo Kindergärten, Schulen und alle Institutionen gleichzeitig Sommerferien haben, spricht man vom 18-Tage-Asthma, weil eben nach 16 bis 18 Tagen der erste Infekt beginnt und bei den Kindern, die tatsächlich ein Asthma haben, dann den ersten Anfall auslöst, den ersten Infekt-assoziierten. Also man hat tatsächlich 2 bis 3 Wochen nach Ende der Sommerferien die ersten Infekte – völlig normal. Und dass der Fridolin vier Infekte hat, das ist auch völlig normal.

Axel Enninger: Also das heißt, es macht den Infekt nicht schneller wieder besser. Wie ist es mit dem Thema Schleimlösen und dem Thema subjektives Gefühl? Also man fühlt sich besser, wenn man inhaliert hat. Ist da etwas dran oder ist das sozusagen eine Projektion von uns Erwachsenen auf die Kinder?

Energiesparen und weniger heizen wird den Kindern guttun

Stephan Illing: Ich glaube, das ist eher eine Projektion von uns Erwachsenen. Natürlich ist es so: Wenn man in einer sehr trockenen Wohnung ist, also sehr stark überheizt, dann ist das Anfeuchten der Atemwege schon etwas Angenehmes. Aber man muss ja wirklich auch nicht bis 24 Grad heizen, nur weil man krank ist. In diesem Winter werden wir jetzt lernen, dass wir sowieso ein bisschen weniger heizen, einfach, um Energie zu sparen. Das wird den Atemwegen eher gut tun. Bei 18 oder 19 Grad geht es den Kindern besser und diese sogenannten Schleimlöser sind komplett überflüssig. Der beste Schleimlöser ist einfach genügend Flüssigkeit. Wenn das Kind ausgetrocknet ist, dann geht es ihm von der Schleimhaut nicht gut.

Axel Enninger: Okay, und du hattest vorhin das 18-Tage-Asthma erwähnt, also der Atemwegsinfekt mit bronchialer Obstruktion. Da gilt das mit dem Inhalieren aber ein bisschen anders, oder?

Stephan Illing: Ja, natürlich. Wir haben bisher ja von den gesunden Kindern gesprochen und dieser Fridolin mit seinen vier Infekten ist ein sonst gesundes Kind. Wenn er tatsächlich die Kriterien für ein Asthma erfüllt, das heißt also, mindestens drei Episoden hatte mit Obstruktion im Rahmen von Atemwegsinfekten, gerade als Kleinkind, dann ist er eben kein ganz gesundes Kind mehr und dann wird er bei neuen Infekten mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eine Obstruktion entwickeln. Er braucht dann tatsächlich auch ein Medikament, und zwar in dem Falle ein Betamimetikum, das seine Atemwege erweitert, was als Nebenwirkung sogar noch die Sekretdrainage etwas verbessert. Aber dieses Betamimetikum muss er nicht, wie wir das früher immer gemacht haben, mit verdünnter Kochsalzlösung inhalieren, sondern er kann das genauso gut mit einem Dosieraerosol, mit einer Inhalierhilfe machen. Das ist schneller, das ist schonender und genauso gut wirksam, wenn er ausreichend dazu trinkt.

Axel Enninger: Da können wir unseren kleinen Werbeblock einblenden und kurz darauf verweisen, dass wir schon einen Podcast zu inhalativen Steroiden gemacht haben.

Stephan Illing: Den habe ich mir angehört und ich kann ihn nur hundertprozentig unterschreiben und empfehlen.

Inhalation mit Kochsalz wirklich nur bei Mukoviszidose

Axel Enninger: Vielen Dank! Approved by Dr. Illing. Sehr gut. Inhalation mit Kochsalzlösung, physiologischer Kochsalzlösung, höher konzentrierte Kochsalzlösung ist auch so ein gern genommenes Thema.

Stephan Illing: Naja, gut, physiologisch, das hört sich ja schon mal sehr gesund an. Die Inhalation mit Salzlösung ist tatsächlich für eine einzige Patientengruppe absolut sinnvoll. Das sind Patienten mit Mukoviszidose. Sie haben einfach ein Salztransportproblem in der Lunge und haben zu wenig Salz. Da ist eine alte Erfahrung aus den 70er Jahren, die wir seit etwa 15 Jahren wiederbelebt haben, dass sie mit hypertonem Kochsalz, also zum Beispiel 6-prozentig wirklich gut werden und eine viel bessere Sekretdrainage haben. Aber was bei diesen Menschen mit einem genetischen Salztransportdefekt in der Lunge richtig ist, das ist nicht bei allen anderen auch richtig. Das heißt, das normale, gesunde Kind wird von diesem hypertonen Kochsalz gar nicht profitieren, sondern es wird ihm sogar eher schaden. Es hat sich inzwischen fast ein bisschen etabliert, dass man sagt, warum nicht alle hyperton. Das ist sicher nicht richtig und da gibt es null Evidenz dafür, dass das überhaupt sinnvoll ist. Alles, was dazwischen ist an Konzentrationen, muss man sagen, ist empfohlen von diesem oder jenem Experten. Evidenz gibt es dafür nicht. Die Kinder an der Nordsee, die immer 3 % Kochsalz inhalieren, sozusagen, wenn sie am Strand herumspringen, die haben genauso viele Infekte wie wir hier, die wir das nicht machen.

Axel Enninger: So super angenehm ist das, glaube ich, auch gar nicht. Ich habe es zwar selber noch nicht gemacht, aber man hört immer wieder, dass es auch subjektiv nicht so wahnsinnig angenehm sei, hypertone Kochsalzlösung zu inhalieren, oder?

Stephan Illing: Also, wenn man das einmal gemacht hat mit 6-Prozentiger, dann kann man mitreden. Das ist überhaupt gar nicht angenehm und das bei einem Kind zu machen, das ist, um es mal schlecht zu formulieren, eine Form der Kindesmisshandlung. Also ich würde das nie empfehlen. Tatsächlich wirklich nie. 3-prozentig ist unkritisch, aber auch nicht notwendig. Die Krankenkassen zahlen es ja letztlich auch nicht – und das nicht ohne Grund.

Axel Enninger: Okay, also das gesunde Kind mit einem oberen Luftwegsinfekt braucht nicht zu inhalieren. Dann ist die andere Frage der Sekretolyse gerne mal genommen. Braucht er vielleicht Atemtherapie? Braucht er Physiotherapie? Kann man ihm dadurch helfen, dass man irgendwie die Sekretolyse besser macht?

Ein Kind mit Luftwegsinfekt, das wieder spielen möchte, braucht keine Physiotherapie…

Stephan Illing: Naja, ein gesundes Kind verhält sich ein bisschen anders als ein 90-jähriger, bettlägeriger, dementer Mensch. Der bewegt sich nämlich nicht. Und jedes Kleinkind – ich kenne keines, das es nicht macht – fängt an, sich zu bewegen, sobald es irgendwie wieder kann. Die beste Physiotherapie im Rahmen von Infekten ist einfach die körperliche Bewegung. Wenn dieses Kind wieder anfängt herumzuspringen, dann bringt es sein Sekret raus. Dann braucht es nicht zusätzlich eine professionelle Physiotherapie, die ihm akut sowieso auch gar nicht hilft. Außerdem wird die Physiotherapeutin ein akut infektkrankes Kind bei sich in der Praxis gar nicht haben wollen.

Axel Enninger: Aber das heißt auch, das Signal des Kindes nach dem Motto „jetzt bin ich nicht mehr so krank, ich will jetzt aufstehen, ich will jetzt mit meinen Legos vor dem Bett spielen. Ich will jetzt etwas machen“ ist ein Signal, dem wir folgen sollten. Und auch alle Betreuer sollten diesem Signal folgen, oder?

Stephan Illing: Ja natürlich, Kinder sind unglaublich schlau. Sie wissen doch genau, was ihnen gut tut. Ein Kind, das sich freiwillig hinlegt, weil es krank ist, das soll man halt in Ruhe lassen und ihm das auch gönnen, diese Zeit der Ruhe. Bei Schulkindern muss man dann ab und zu vielleicht einen kleinen Schubs geben und sagen: ‚Komm jetzt, komm schon mal wieder aus dem Bettchen raus.‘ Aber Kleinkinder, die sind richtig gut. Sie machen genau das, was sie brauchen, was ihnen gut tut. Und wenn sie anfangen herumzuspringen, dann darf man sie auch nicht mehr daran hindern.

Kinder von selbst gesund werden lassen

Axel Enninger: Und jetzt erinnere ich mich an so einen Spruch, den du gelegentlich bei unseren Visiten mit jüngeren AssistenzärztInnen gemacht hast, nach dem Motto: „Wir Ärzte sollten nicht so viel den natürlichen Krankheitsverlauf stören“. Willst du das noch mal ein bisschen kommentieren?

Stephan Illing: Naja, es ist doch tatsächlich auch so: Infekte gehören schlichtweg dazu. Ohne Infekte gibt es keine Lebewesen auf dieser Welt. Alle infizieren wir uns dauernd. Wofür wir das brauchen, warum das so ist, das weiß kein Mensch. Aber es ist auf jeden Fall so und wir haben gelernt, damit klarzukommen. Unsere Kinder können das, sie werden damit fertig. Und nur die ganz wenigen Infekte, die mal aus dem Ruder laufen, wenn es mal eine Pneumonie gibt oder so etwas? Da haben wir Werkzeuge, da greifen wir auch ein. Aber ansonsten lassen wir die Kinder einfach, wie sie sind. Und unsere Kinder, kann ich nur sagen, sind weitestgehend ohne Medikamente groß geworden und ohne Intervention. Sie haben sich manchmal ein bisschen beschwert. Meine Schwiegermutter hat sich manchmal gewundert: ‚Warum gibst du keinen Hustensaft?‘ und und und. Da habe ich gesagt: ‚Warte doch. Sie werden von selber gesund.‘ Sie sind es.

Axel Enninger: Das kann ich aus eigener Erfahrung auch bestätigen. Ich werde immer zitiert mit dem Spruch: „Rot, aber kein Eiter – kannst in die Schule.“ Das war der Standardspruch bei uns zu Hause, ging in aller Regel tatsächlich auch gut. Aber in der Tat, die Erwartungshaltung ist natürlich manchmal schwierig. Und je jünger man im Medizingeschäft ist und je jünger man Assistenzärztin / Assistenzarzt ist, umso schwieriger ist es vielleicht, mit diesem Erwartungsdruck klarzukommen. Jetzt hast du vorhin schon mal kurz gesagt, die Kinder haben Infekte und brauchen Infekte. Infekte im Kindergartenalter als Anführungszeichen „Training“ Anführungszeichen des Immunsystems. Magst du dazu ein bisschen was sagen?

Das Immunsystem braucht keine Mindestzahl an Infekten

Stephan Illing: Naja, das ist jetzt tatsächlich nicht so wie bei der Muskulatur. Die muss man tatsächlich trainieren, damit man sie anständig benutzen kann. Und DAS Immunsystem? Wenn es schon jemand sagt, DAS Immunsystem, dann sträubt sich bei mir schon einiges. Das ist ein so komplexer Mechanismus und wir können nicht das Immunsystem stärken oder trainieren oder sonst irgendetwas damit machen. Es ist tatsächlich nicht so, dass wir eine bestimmte Anzahl von Infekten brauchen, damit es genügend gelernt hat – so wie wir Vokabeln brauchen, damit wir sprechen können oder so. Eine sehr große Anzahl von Infekten machen die Kinder einfach sehr lange Zeit krank. Dann fehlen sie halt oft und sind halt oft im Bett. Das ist vielleicht nicht unbedingt das Optimum, wenn das Kind dauernd Infekte hat, aber ob das jetzt zwei oder drei oder fünf oder zwölf Infekte im Jahr sind, das ist vollkommen unerheblich. Es gibt Regionen auf der Welt, Falklandinseln oder in Australien, in der Peripherie irgendwo, da haben die Kinder gar keine Gelegenheit, sich anzustecken und sie sind deswegen als Erwachsene nicht kränker als andere. Sie haben dann einfach wenig Infekte gehabt. Bei uns in Deutschland ist es ja auch so: Wer im Waldkindergarten ist, hat weniger Infekte als ein Kind, das in einer normalen Kita ist. Ein bisschen überheizt, dann noch mit 22 Kindern den ganzen Tag in einem Raum. Da gibt es auch Unterschiede und trotzdem unterscheiden sie sich später nicht von ihrer Gesundheit sozusagen oder von der Funktion ihres Immunsystems oder was auch immer.

Waldkindergartenkinder sind robust und selten krank

Axel Enninger: Das mit dem Waldkindergarten finde ich schwer einleuchtend. Also wenn Kinder einfach mehr draußen sind, weniger in geschlossenen Räumen sind und weniger Infekte haben, dann sind das ja in der Tat häufig diese Waldkindergartenkinder, die man dann so sieht, oft sehr, sehr robuste und ziemlich gesund wirkende Kinder. Gegen Waldkindergarten haben wir Kinder- und Jugendärzte nichts, oder?

Stephan Illing: Nein, gar nicht. Und es ist sogar so, dass diese Kinder, die haben nicht nur den Vorteil, dass sie ein bisschen weniger Infekte vielleicht auch haben. Das ist jetzt völlig nebensächlich, aber sie haben den Vorteil, dass sie viel besser koordiniert sind, ja, dass sie auch sozial, glaube ich, nicht schlechter sind als andere, sondern eher besser, weil sie auch viel mehr Erfahrung gemacht haben und Gefahren auch besser einschätzen können. Und wenn ich gefragt worden bin, selbst bei Mukoviszidosepatienten, Waldkindergarten? Da bin ich früher beschimpft worden: ‚Wie kannst du nur so etwas gestatten?‘ Und eine meiner Mukoviszidosepatientinnen ist inzwischen selbst Erzieherin in einem Waldkindergarten, und ich kann das nur empfehlen. Wenn es das damals schon gegeben hätte, wahrscheinlich hätten wir unsere Kinder da auch hingegeben.

Axel Enninger: Okay, also das heißt, die Anzahl der Infekte ist es eigentlich gar nicht. Und noch mal: Die oberste Message ist: möglichst wenig intervenieren und auf die Signale der Kinder hören. Jetzt intervenieren wir ja dann doch in aller Regel, wenn wir Impfungen empfehlen. Da sind wir ja besonders in Stuttgart in einer Region, wo gerne mal unterschieden wird zwischen der Wildtypinfektion und der vermeintlich schlechteren Variante der Impfantwort. Dazu hätte ich auch gerne etwas von dem erfahrenen Kinderpneumologen gehört. Also mache es doch mal am Stichwort Masern, bitte.

Wildtyp versus Impfung

Stephan Illing: Also zu Impfung muss man ja sagen: Natürlich gibt es verschiedene, die kann man auch nicht alle über einen Kamm scheren. Es hat sich auch ganz viel geändert im Laufe der Jahrzehnte, das muss man schlichtweg sagen, zum Beispiel bei der Pertussis. Aber jetzt fangen wir mal mit Masern an. Man hört oft den Spruch: Das Kind muss gemastert haben, damit es sich richtig entwickelt. Das ist in der Alternativszene sehr weit verbreitet und ich habe das auch früher schon so gehört. Wir wurden als Kinder ja noch aktiv mit Masern angesteckt, damit wir sie gehabt haben, sozusagen. Da gab es noch keine Impfung. Dann wird auch immer geschildert, dass die Kinder nach den Masern einen Entwicklungsschub durchmachen. Und ohne die Masern machen sie diesen Entwicklungsschub nicht und sind deswegen keine sozusagen ganz vollständigen Menschen. Und diesen Entwicklungsschub – ich habe da wirklich sehr viel recherchiert, um ihn irgendwo mal bewiesen zu sehen – den gibt es nicht. Die Wahrnehmung ist einfach, natürlich machen die Masern schon sehr schwer krank, und wenn die Kinder sich von den Masern erholen und dann sozusagen wieder aus dem Bette auferstehen, dann machen sie natürlich schon einen Entwicklungssprung. Dass sie aber vorher einen ganzen Sprung nach unten gemacht haben, nämlich von einem gesunden Kind zu diesem relativ schwerkranken Masernkind, das wird völlig übersehen und das Ganze ist schlichtweg nur eine Delle. Und wenn man Glück hat, hat das Kind hinterher denselben Status wie vorher. Aber ich habe – leider muss ich sagen – einige Kinder gesehen, die an Masern tatsächlich schwer krank geworden sind und dass sie hinterher psychomotorische Probleme hatten. Dann haben wir noch die zum Glück seltene SSPE, diese Slow-Virus-Infektion. Wer die ein einziges Mal erlebt hat, wie ein vorher komplett gesundes Kind mit fünf, sechs, sieben Jahren Abstand Stück für Stück immer, immer, immer schwerer krank wird, irgendwann nur noch krampfend im Bett liegt und dann stirbt… Wer das einmal erlebt hat, der findet einfach gar kein Argument mehr, das Kind nicht impfen zu lassen. Diese schwere Erkrankung gibt es ausschließlich nach dem Wildtyp und nicht nach den Impfungen. Das ist inzwischen ganz klar.

Axel Enninger: Das heißt, ein Mythos, mit dem wir gerne aufräumen möchten, ist: Eine Wildtyp-Erkrankung mit verschiedenen, auch impfpräventablen Viruserkrankungen ist kein gesundheitlicher Benefit im Vergleich zur Impfung, oder? Das glaube ich, wollen wir beide unbedingt loswerden.

Stephan Illing: Ja natürlich. Und das ist ja so: Ich meine, wenn man sich tatsächlich jetzt mal das Immunsystem anschaut, dann sieht man ganz genau, sowohl durch das Impfvirus als auch durch das echte Virus werden dieselben Gedächtniszellen aktiviert. Das ist exakt, wirklich, genau dasselbe. Das heißt, am immunologischen Gedächtnis kann man nicht unterscheiden, ist das durch eine Impfung oder durch eine echte Infektion. Das ist doch das, was wir wollen: Wir wollen eine harmlose künstliche Infektion ohne schwere Komplikationen haben, damit das Kind geschützt ist. Und das muss diese Risiken nicht auf sich nehmen. Also insofern, es gibt immunologisch keinen Unterschied, das ist nichts Schlechteres.

Axel Enninger: Infekte gehen ja in aller Regel auch mit Fieber einher. Und die Sorge, die viele Familien haben, ist ja das Thema des Fieberkrampfes. Das steht überall zu lesen. Und in der Tat ist es ja auch so, wenn man mal selber ein Kind hatte oder ein Kind mit einem Fieberkrampf gesehen hat… Das ist ja für uns Kinder- und Jugendärzte unser täglich Brot, und es wirft uns in aller Regel nicht aus den Schuhen. Aber für Eltern ist das ja wirklich ein subjektiv sehr beeinträchtigendes Erlebnis. Das muss man einfach auch ernst nehmen, wenn die Eltern besorgt mit ihren Kindern kommen und denken, ihr Kind wäre jetzt fast gestorben. Dennoch, auch da ranken sich ja so ein paar Mythen zum Thema. Was kann ich denn tun, dass Kinder keinen Fieberkrampf kriegen oder zumindest nicht noch mal einen Fieberkrampf bekommen?

Fieberkrampf: Ruhe bewahren, niemand hat Schuld

Stephan Illing: Ja, Fieberkrampf ist tatsächlich etwas nicht sehr Schönes. Meistens ist es ja so: Wenn man als Kinderarzt in der Notfallambulanz ist, kriegt man die ganzen Kinder gebracht, aber die krampfen ja dann gar nicht mehr. Das ist gar nicht so einfach, einen Fieberkrampf einmal live zu sehen, es sei denn, er wiederholt sich in der Klinik und man wird schnell gerufen: ‚Komm, guck mal hier.‘ Und wenn man das mal wirklich gesehen hat… Bei mir hat es sehr lange gedauert, bis ich meinen ersten Fieberkrampf live gesehen habe. Vorher habe ich zig Kinder gesehen, die kurz vorher einen Krampfanfall hatten mit ihren aufgeregten Eltern. Wenn man das mal live gesehen hat, sieht man, es ist tatsächlich kein schönes Ereignis. Die gute Botschaft ist: Fieberkrämpfe sind ziemlich harmlos. Es gibt ein paar Risikofaktoren und es gibt ein paar Kinder, die hinterher vielleicht auch Probleme haben. Das sind dann aber auch Kinder, die entweder vorher schon Probleme hatten oder bei denen der Fieberkrampf das Problem zum Vorschein bringt, das sie sowieso gekriegt hätten. Also zum Beispiel bestimmte Formen der Epilepsie. Aber der eigentliche Fieberkrampf ist harmlos. Zwei, drei, vier Prozent – es gibt Regionen auf der Welt, da hat jedes zehnte Kind einen Fieberkampf. In Südostasien gibt es da so ein paar Regionen, wo das so sehr viel häufiger ist. Und wenn ich unterrichte…

Axel Enninger: Warum ist das so? Das habe ich noch nie gehört.

Stephan Illing: Warum? Es gibt genetische Gründe. Der Spitzenreiter, das habe ich jetzt noch mal nachgelesen, Spitzenreiter sind die Marianen-Inseln, da hat es jedes sechste Kind. Warum? Warum habe ich nicht rausgekriegt. Aber es gibt tatsächlich regionale, große Unterschiede. Und wenn ich im Unterricht über Fieberkrampf unterrichte, dann geht fast jedes Mal eine Hand hoch. Ja, ich habe das als Kind auch gehabt. Also fast in jeder Klasse sitzt einer, der einen Fieberkrampf hatte. Das ist also etwas Häufiges.

Axel Enninger: Das Thema wäre Rezidivprophylaxe.

Stephan Illing: Genau. Und das ist jetzt die Sache. Das wollen wir natürlich nicht noch einmal erleben. Wir haben früher dann, wenn die Kinder nach Hause gegangen sind, gesagt: ‚Also immer bitte Fiebermedikamente, und sofort‘, und geben und geben und geben. Es gibt eine sehr gute Leitlinie, die wirklich alle Literatur, die es dazu gibt, berücksichtigt hat. Und es bestätigt sich immer und immer wieder: Man kann einen erneuten Fieberkrampf durch Fiebermedikamente nicht verhindern. Das heißt also, dass man schon mit Fieberzäpfchen oder Tabletten sozusagen den halben Tag herumläuft und sobald das Kind auch nur ein bisschen Schnupfen hat – zack, los und Fiebermedikamente geben – verhindert nichts. Es macht die Eltern bloß ängstlicher, als sie sowieso schon sind, viel ängstlicher. Und wenn es dann doch zu einem zweiten Fieberkrampf kommt, machen sie sich auch noch Vorwürfe. Das kann man den Eltern komplett ersparen.

Axel Enninger: Okay, das heißt für die jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörer: tatsächlich ernstnehmen, weil es wirklich ein beeindruckendes Erlebnis für die Eltern ist. Aber nicht durch unnötige Anführungszeichen „Prophylaxe-Maßnahmen“ Anführungszeichen die Eltern, sage ich mal, hypersensibilisieren. Sie haben sowieso Angst vor dem nächsten Ereignis. Da muss man nicht durch ärztliche Maßnahmen, hinter denen keine Evidenz steht, noch zusätzlich verunsichern. Ich finde den Punkt ganz gut: Dann haben sie Fieberkrampf- in Anführungszeichen „Fieberprophylaxe“ gemacht und sie krampfen trotzdem, dann fühlen sich die Eltern natürlich noch schlechter. Das heißt, wir behandeln die Kinder bei fieberhaften Infekten wie alle anderen Kinder auch. Wenn es ihnen schlecht geht und sie nicht mehr trinken, dann machen wir Fiebersenkung. Ansonsten lassen wir sie fiebern und tun mal nix, oder?

Stephan Illing: Ja genau. Also unsere Kinder, die durften bei Infekten auch fiebern. Und wenn ein Kind tatsächlich mal bis 39,5° C fiebert und es geht ihm schlecht, natürlich kriegt es da etwas, ist doch klar. Wir sind ja auch nicht grausam, aber wenn es dann mit 38,4° C einfach ein bisschen Halsschmerzen hat, ein bisschen Kopfschmerzen und im Bett liegt und ansonsten ist alles okay, dann braucht es kein Fiebermedikament. Und was viele Eltern dann machen, dass sie die Kinder ausgerechnet dann auch noch besonders warm anziehen. Natürlich Quatsch. Fieber soll ja auch dazu dienen, bzw. das Schwitzen dabei, dass man seine Temperatur wieder herunterregeln kann. Wenn man die dann einpackt, so dass sie da keine Chance haben zu schwitzen, ist das auch nicht so furchtbar toll. Aber zum Fieberkrampf: Man kann den nächsten Kampf nicht verhindern. Niemand hat Schuld.

Axel Enninger: Mythos Fieberkrampf. Da haben wir jetzt einen Haken dahinter gemacht. Wo man ja auch fiebern kann, ist bei der banalen Durchfallserkrankung, also banale Durchfallserkrankung im Sinne von Rota-Gastroenteritis, aber auch Salmonellen, sonstige bakteriellen Gastroenteritiden. Und eins meiner Lieblingsthemen ist ja Anführungszeichen „Schonkost“ Anführungszeichen, Schonkost nach Gastroenteritis, Schonkost bei Gastroenteritis, Schonkost bei allen möglichen komischen Dingen. Aber du bist der Experte und ich bin nur der Frager.

Wunsch- statt Schonkost bei Diarrhö

Stephan Illing: Nein, ganz das Gegenteil ist es. Ich erinnere mich noch gut, als du an die Klinik gekommen bist. Ich war dort schon einige Zeit und hatte es schon mitgekriegt, dass das mit der Schonkost nicht ganz so furchtbar toll ist, konnte mich aber, weil ich da auch sozusagen nicht verantwortlich oder zuständig für diesen Bereich war, nicht durchsetzen. Und du hast das dann als Kinder-Gastroenterologen tatsächlich sehr bald durchgesetzt, dass wir endlich mit dieser verdammten Schonkost aufhören. Wir haben den Kindern damals irgendwelche fettarme und sonstige komische Heilnahrung oder ähnliche Dinge gegeben und es war dann sogar noch üblich, dass man sie verdünnt hat. Wir haben ganz oft erlebt, dass die Kinder dann nicht richtig schnell gesund geworden sind, dass der Durchfall sehr lange persistiert hat. Damals gab es den Begriff der „intraktablen Diarrhö“, also ein Durchfall, der nicht mehr ausheilt über Wochen und Monate. Die Kinder waren wieder „gekippt“, haben die Schwestern gesagt, das heißt, sie waren schon auf dem Weg der Besserung und dann ging der Durchfall wieder los. Mit dem Ende der Schonkost hat das alles aufgehört. Und warum ist das so? Wir haben gelernt, dass die oberste Zellschicht im Darm sich aus dem Darm ernährt und das ist ja ausgerechnet die Barriereschicht, die empfindlichste Zellschicht. Wenn wir ausgerechnet die jetzt hungern lassen nach einem Infekt, wo sie sowieso schon beeinträchtigt ist, dann machen wir genau das Verkehrte. Wenn das Kind noch mal spuckt oder irgendetwas anderes – vollkommen egal. Einfach Essen oben rein und wenn es unten wieder herauskommt oder auch oben wieder herauskommt, alles nicht so furchtbar schlimm. Und auch da wieder sind die Kinder schlau. Sie wissen, was ihnen gut tut. Sie wollen nicht Schnitzel mit Pommes frites, die wollen vielleicht irgendwas anderes und dann kriegen sie tatsächlich mal so eine Art Wunschkost.

Axel Enninger: Okay. Aber ich glaube, da muss man wirklich auch mal sagen, wir sind ja groß geworden, also ich bin erzogen worden von einer erfahrenen Kinderkrankenschwester, die mir all dieses als junger Assistenzarzt erst einmal beigebracht hat, wie man denn das so macht. Und so dankbar ich dieser Generation von erfahrenen Kinderkrankenschwester auch bin, diesen Zopf muss man leider abschneiden, weil das, was wir da jahrelang gemacht haben, mit irgendwelchen Diäten, Schonkosten, weniger Fett, weniger Kohlenhydrate, das war schlichter Unsinn und viele von diesen Kindern, die so lange im Krankenhaus waren, sind quasi Opfer unserer ärztlichen Maßnahmen geworden. Das darf man ja vielleicht auch im Nachhinein einmal sagen. Wir haben damals gedacht, das war gut und richtig, wir haben gelernt, es nicht mehr richtig. Und ich glaube, die junge Generation, die kann sich das gar nicht mehr vorstellen. Aber auch da sind wir ja manchmal mit Mythen konfrontiert, die auch Menschen aus anderen Ländern mitbringen, wo es zum Teil immer noch verbreitet ist, Diäten, Schonkosten und solche Dinge zu machen. Also, die Kinder sollen normal essen, was sie vorher auch gegessen haben, sie regulieren das schon von ganz alleine. Natürlich würde man jetzt nicht mit dem fettigen Döner und auch nicht mit der Schwarzwälder Kirschtorte anfangen, aber mit gesundem Menschenverstand. Das hast du schon gut gesagt, die Kinder haben den in aller Regel, manchmal mehr als wir Erwachsenen. Einfach weitermachen und sie sollen essen, Schonkost brauchen wir praktisch nie. Es gibt kaum eine gastroenterologische Erkrankung, wo wir mal etwas ändern müssen. Das gilt nicht ganz für die Pankreatitis in der richtig schwer akuten Situation, aber der normale Durchfall braucht keine Schonkost. Das ist uns, glaube ich, wirklich ausgesprochen wichtig und das haben wir beide quasi live und in Farbe miterlebt, diese Transition. Da, würden wir sagen, sind wir ziemlich froh, dass wir das miterleben durften, oder?

Stephan Illing: Genau. Und weil du gerade Pankreatitis angesprochen hattest: Bei Kindern ist das ja sowieso kein sehr häufiges Problem. Bei Erwachsenen ist es natürlich eine ganz andere Nummer und da muss man sicher auch Maßnahmen ergreifen. Und ich erinnere mich an einige Kinder mit sogenannter chronischer Pankreatitis, wo wir monatelang mit der Diät rauf, runter, rauf, runter, Stufe 1, 2, 3, 4 und dann wieder zurück usw. gemacht haben. Und am Ende stellte sich heraus, es war eine Mukoviszidose als Grunderkrankung. Da hätten wir zehn Jahre lang Diät gemacht.

Axel Enninger: Ja genau. Also das Ganze ist abgeschafft und der Eckpunkt auch beim Thema Pankreatitis ist Schmerzen und nicht die Erhöhung der Lipase oder sonstige Parameter. Schmerz ist der entscheidende Parameter. Wer keine Schmerzen mehr hat, darf auch etwas essen. Aber das ist auch ja so ein gern genommener Mythos. Schon auch bei uns, aber ich habe den Eindruck, in manchen Ländern mehr als in anderen Ländern. Ein schön geformter, weicher Stuhlgang ist Ausdruck der Gesundheit, oder?

Stephan Illing: Mythos.

Axel Enninger: Gern genommener Mythos?

Stephan Illing: Gern genommener Mythos. Ja, das ist natürlich genauso. Wovon hängt die Konsistenz des Stuhlgangs ab? Von dem individuellen Mikrobiom, das man auf die Welt mitgebracht hat, das man kultiviert hat durch seine Ernährungsgewohnheiten, durch die Menge, vielleicht sogar auch, wie viel man trinkt und woran auch immer. Solange ein Kind einigermaßen schmerzfrei und in der normalen Frequenz aufs Klo geht, ist ziemlich egal, was da rauskommt.

Axel Enninger: Okay, also auch das ist mir als Kinder-Gastroenterologen natürlich ganz wichtig: Einem, dem es sonst gut geht und der fünf breiige Stühle am Tag hat, sonst aber ein puppenlustiges Kind ist, soll weiter ein puppenlustiges Kind bleiben und auch den würden wir beide gerne bewahren vor zu viel der ärztlichen Intervention.

Stephan Illing: Genau. Und das, was wir früher an Stuhlkosmetik gemacht haben, wie man das genannt hat, das brauchen wir zum Glück nicht mehr.

Die ersten Mückenstiche im Frühjahr sind oft schlimm

Axel Enninger: Dann lass uns mal das Organsystem wechseln. Das kann ich vielleicht auch sagen: Früher am Olgahospital war es immer so, hatte da einer komische Hautstellen und keiner wusste so richtig, dann hieß es immer: ‚Lass uns mal den Illing fragen.‘ Dabei gab es ein paar Dinge, die wir auch geändert haben in den Jahren, in denen wir zusammen gearbeitet haben. Ein Punkt – jetzt ist der Sommer fast vorbei und die Insektenstichphase ist auch vorbei – ist Stich in die Hand und die Hand ist dick und rot. Wie interpretiere ich das Ganze und wie interpretiere ich es möglicherweise besser auch nicht.

Stephan Illing: Ein Insektenstich ist natürlich immer etwas, das beunruhigen kann und es kommt darauf an, was für ein Insekt. Im Frühjahr beobachten wir relativ häufig, dass nach Mückenstichen starke Schwellungen auftreten. Das liegt eventuell auch daran, dass wir einfach den ganzen Winter über nicht gestochen wurden. Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, wo es also ganzjährig Mücken gibt, die haben diese verstärkten Reaktionen auf Mückenstiche zum Beispiel nicht. Im Frühjahr sind die Reaktionen dann oft etwas stärker und lassen im Laufe des Sommers dann auch nach. Nichts machen, kühlen, was auch immer und abwarten, es geht vorbei. Bei Bienen- und Wespenstichen ist es tatsächlich oft eine Frage: Was ist da jetzt? Wie ist das zu interpretieren? Es gibt normale Stichreaktionen, die teilweise sehr schmerzhaft sind. Also mein letzter Wespenstich, der war ja schon ganz majestätisch, erinnere ich mich. Es hat sehr wehgetan, auch so ein bisschen über Tage noch an der Stelle. Das ist aber normal. Und wenn die Schwellung nach 24 Stunden und mehr ihr Maximum hat, da kann die ganze Flosse geschwollen sein oder das ganze Bein. Das nennt man eine verstärkte Lokalreaktion. Das ist eine immunologische Reaktion, eine Immunkomplexreaktion, die am Ende des Tages aber letztlich harmlos ist.

Bienen- und Wespenstiche mit steriler Lymphangitis

Axel Enninger: Und woher weißt du, dass es keine bakterielle Infektion ist, die jetzt antibiotikapflichtig ist?

Stephan Illing: Naja, die Reaktion hat nach einem Tag ihr Maximum an Schwellung und am zweiten bis dritten Tag beginnt sie bereits wieder abzuschwellen. Da beobachtet man manchmal auch so einen kleinen Strich, also eine Lymphangitis. Das ist eine sterile Lymphangitis. Eine bakterielle Infektion vom Insekt selber kommt gar nicht. Ein Insekt transportiert keine Streptokokken mit sich herum, keine Biene führt dann blitzartig sozusagen zu einer Streptokokkeninfektion. Was passieren kann, wenn man den Stich hübsch kratzt, dass man nach Tagen irgendwann eine sekundäre Infektion bekommt. Das ist dann aber eine andere Geschichte und das ist vom zeitlichen Ablauf her komplett klar abzugrenzen. Und diese Lymphangitis nach zwei, drei Tagen, das ist immer eine immunologische Reaktion, die wirklich harmlos ist.

Insektizide sind nicht harmlos, aber…

Axel Enninger: Das finde ich wirklich wichtig, weil man da, glaube ich, viele Kinder vor unnützen antibiotischen Therapien bewahren kann. Verstärkte Lokalreaktion, wenn es in den ersten 24–48 Stunden geschwollen ist. Immunologie nicht Bakteriologie. Die Biene und Wespe bringt keine Staphylokokken. Auch noch so eine gern genommene Geschichte: Die Reaktionen sind stärker geworden wegen der Spritzmittel?

Stephan Illing: Ja, das ist mit Sicherheit so [schmunzelt]. Nein. Erstens ist es so, dass meistens die Blüten und nicht die Insekten gespritzt werden. Zweitens ist es so, dass ein Insekt, das durch ein Spritzmittel so giftig behandelt ist, das ist tot und sticht nicht mehr. Ja, die Spritzmittel sollen ja bestimmte Insekten beseitigen, leider auch manchmal Bienen. Diese Bienen, die stechen nicht mehr. Sie liegen einfach auf dem Boden. Dass ein Spritzmittel transportiert wird und dann bei uns eine Reaktion auslöst, das gibt es praktisch gar nicht. Es gibt tatsächlich Kontaktallergien auf Spritzmittel, bei den Landwirten zum Beispiel, die so etwas verwenden und keine Schutzmaßnahmen betreiben. Das Zeug ist nicht komplett harmlos, auch wenn man es inhaliert, ist es ist nicht komplett harmlos. Aber das, was über das Insekt an den Menschen transportiert werden könnte, kann schon rein theoretisch von der Menge her nichts machen. Aber das Insekt transportiert nichts mehr, weil es das nicht mehr kann.

Axel Enninger: Also das ist jetzt keine Werbeverkaufsshow für Spritzmittel in der Landwirtschaft, aber trotzdem ein klares Statement: Das, was die Biene transportiert, hat mit dem Spritzmittel nichts zu tun und ist eine immunologische Reaktion. Und noch einmal: Wenn die Schwellung früh auftritt, dann ist das in aller Regel keine bakterielle Infektion, die man antibiotisch behandeln muss. Wirklich noch mal bitte das Ausrufezeichen für den einen oder anderen, der dann doch manchmal das Antibiotikum verordnet. Abwarten, kühlen. Auch das macht der Körper in aller Regel von allein.

Stephan Illing: Und das ist im Übrigen auch keine Allergie. Das wollte ich auch noch dazu sagen. Das ist ganz wichtig. Diese verstärkten Lokalreaktionen sind auch kein Anlass, später mal einen Allergietest zu machen. Da kommt nur Unsinn heraus. Man findet dann zwar häufig irgendwelche Reaktionen im Allergietest, aber sie haben null Aussagekraft für die Zukunft. Allergie ist innerhalb von einer Viertelstunde bis maximal 30 Minuten Nesselsucht, Quincke-Ödem, Kollaps, Asthma und so weiter. Alles andere ist keine Allergie im eigentlichen Sinne und deswegen sollten diese Kinder auch nicht getestet werden. Die Eltern waren immer enttäuscht, wenn sie zu mir gekommen sind, und ich habe sie ohne Test wieder weggeschickt.

Urtikaria und alle denken, es ist allergisch

Axel Enninger: Vielleicht können wir das gleich aufgreifen – ohne Test wieder weggeschickt. Auch so ein Klassiker ist ja Urtikaria. Da kommt jemand mit einer Urtikaria und alle, alle, alle, alle denken, das ist irgendetwas Allergisches. Jetzt macht wir einen Allergietest. Mythos, Stephan?

Stephan Illing: Also, wenn ich gerufen worden bin oder gefragt worden bin bei einem Kind mit Urtikaria: ‚Ist es allergisch?‘, habe ich erst einmal nein gesagt ohne eine einzige anamnestische Frage und ohne irgendetwas, weil ich dann einfach zu 95 % recht hatte! Danach habe ich natürlich schon nachgefragt. Die allermeisten Fälle von Urtikaria sind unspezifisch oder Infekt-assoziiert und nur etwas, das in einem klaren Zusammenhang auftritt – Erdnuss gegessen zehn Minuten später Urtikaria plus Erbrechen plus irgendwie – das ist klar, das ist allergisch; bei Insekten genauso oder wenn irgendein wirklich akuter Anlass dazu ist. Alles, was spät am Nachmittag so ein bisschen auftritt und da ist, dann wieder weg und am nächsten Tag wieder, das ist definitiv nicht allergisch. Da muss man nach anderen Dingen suchen und die Abklärung einer solchen Urtikaria, das ist eine Strafarbeit. Mit der ist man oft nicht erfolgreich. Selbst bei ausführlichster Diagnostik bleibt mindestens die Hälfte der Urtikariafälle ursächlich ungeklärt und in den meisten Fällen muss man es auch nicht klären. Wenn es das einzige Symptom ist, es dem Kind sonst gut geht, es sonst keinerlei Krankheitszeichen hat, dann ist es so. Dann wartet man ab und kann nach vier Wochen noch einmal neu nachdenken, kann das Kind noch einmal anschauen. Hat sich etwas geändert? Gibt es zusätzliche Krankheitszeichen? Gibt es irgendein Problem? Und dann kann man anfangen zu suchen.

Axel Enninger: Okay, also bei Urtikaria gilt im Prinzip genau das Gleiche wie bei allen anderen Allergien. Wenn ich einen klaren Zusammenhang habe – du hast vorhin gesagt die Nuss, und wenn dann ein klarer zeitlicher Zusammenhang besteht – dann kann man sagen, es ist etwas Allergisches, aber ansonsten Urtikaria oft Banalinfekt-assoziiert, ohne dass man es im wahren Leben herausbekommt. Stephan, noch so ein paar Dinge, die wir, glaube ich, eher an Eltern… also der Podcast richtet sich ja eigentlich an ärztliche Kolleginnen und Kollegen, aber gerade die Jüngeren werden ja oft auch gefragt, was man bei so typischen Haushaltsthemen und -dingen tut. Wir können ja schon einmal anfangen. Was machen wir mit der dicken, geschwollenen Hand nach Insektenstich? Was ist unsere Empfehlung?

Stephan Illing: Hochlegen, Umschläge machen, abwarten.

Axel Enninger: Kalt oder warm?

Stephan Illing: Eher kühl.

Axel Enninger: Okay, kühl, hochlegen und was wir nicht unbedingt wollen, ist so richtig viel körperliche Aktivität oder so?

Stephan Illing: Ja klar. Ich meine, wer so eine dicke, geschwollene Flosse hat und in keinen Schuh mehr hineinkommt, der läuft ja einfach auch nicht. Das schwillt von selber ab.

Verbrennung und Verbrühungen: zuallererst schauen, dass es nicht weiter geht

Axel Enninger: Verbrennungen, Verbrühungen: Was wollen wir, was wollen wir nicht? Mythos aus unserer Generation war Mehl. Ich glaube, da kommt keiner mehr drauf. Das macht keiner mehr. Zahnpasta macht, glaube ich, auch keiner mehr.

Stephan Illing: Es gibt doch so ein paar Familien mit Migrationshintergrund, die das von sich aus machen. Aber von den Ärzten macht das natürlich gar keiner mehr. Schon lange nicht mehr.

Axel Enninger: Also das wollen wir nicht. Aber was wollen wir mit einer Verbrennung und einer Verbrühung? Was ist unser Ratschlag?

Stephan Illing: Natürlich erst einmal gucken, dass es nicht weitergeht. Dass man die Ursache beendet, das Kind da rausholt. Dann guckt man ganz grob und ganz schnell, wie groß diese Fläche eigentlich ist. Im Prinzip ist es so – meistens handelt es sich ja um Verbrühungen – den Schaden wollen wir ja nicht vergrößern und wir tun die Fläche eher kühlen, als dass wir irgendetwas anderes machen. Man kann kaltes Leitungswasser drauf tun, kein Eiswasser bitte. Es beginnt schon bei relativ kleinen Verbrühungen, wenn man es zu kalt macht oder zu viel Eis nimmt, dann kühlt man, wenn man es länger macht, tatsächlich auch die Kerntemperatur herunter. Das ist etwas, was wir überhaupt gar nicht wollen. Das heißt also, wenn man eine Verbrennung von einem ganzen Arm oder von irgendwas hat: abdecken, in Ruhe lassen, gucken, dass nichts passiert und dann aber auch letztlich gar nichts machen, bis man in der Klinik ist, wo das Kind dann wirklich gut versorgt ist und eine Infusionstherapie kriegt, wo man die Temperatur überwachen kann, wo man alles richtig machen kann, wie es sein muss. Und als Erstmaßnahme bei kleineren Verbrühungen: kaltes Wasser drüberlaufenlassen, normales Leitungswasser und ansonsten erst mal nichts machen, nicht anfassen und zum Kinderarzt bringen, der dann die weitere Versorgung veranlasst.

Axel Enninger: Also, daran erinnere ich mich auch noch. Ich weiß noch, dass es einmal bei mir zu Hause einen Unfall mit heißem Fett gab und ich mit kurzen Hosen da saß und ordentlich viel heißes Fett auf die Oberschenkel bekommen hatte. Ich habe dann die nächsten paar Stunden mit Eispacks in der Badewanne gesessen. Das hätte man mir ersparen können. Normales, kühles Wasser hätte es wahrscheinlich auch getan. Also kühlen, aber nicht unterkühlen ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Nicht irgendetwas draufschmieren, sauber abdecken und ab in die Klinik. Stephan, wir hatten uns noch ein paar andere Mythen vorgenommen, aber vielleicht müssen wir daraus eine zweite Podcastfolge machen, denn wir sind mit unserer Zeit fast schon am Ende. Du darfst aber trotzdem, wie es Tradition hier in diesem Podcast ist, zwei Dinge loswerden, die du unbedingt positiv loswerden möchtest im Sinne von „Bitte, bitte denken Sie dran“, und/oder beides, auch zwei Dinge loswerden, die dich total nerven und wo du sagen würdest: „Das haben wir jetzt so viele Jahre falsch gemacht, jetzt hört endlich auf damit!“ Du darfst entscheiden, in welcher Reihenfolge du startest.

Die Does und Dont‘ s: Bange machen gilt nicht, besser Kinder und Eltern ermutigen; sich hinterfragen und die Leitlinien kennen

Stephan Illing: Also, als junger Arzt habe ich ganz arg oft den Eltern gedroht, wenn du das so machst, dann passiert irgendetwas Schreckliches und so weiter und so fort. Ich habe gelernt, Angst machen oder auch Vorwürfe machen ist ganz falsch. Im Umgang mit Eltern nicht drohen, wenn sie etwas nicht wollen, sondern einfach versuchen sie zu überzeugen. Aber Angstmachen, Vorwürfe machen – warum habt ihr das nicht gemacht, warum habt ihr jenes nicht gemacht – das hilft überhaupt nicht. Das baut kein Vertrauen auf und man verliert die Eltern dann erst recht. Das sollte man nicht machen. Das Zweite, das man auch nicht machen sollte, das kam ja jetzt auch deutlich genug heraus, bitte nicht bei jeder kleinen Befindlichkeitsstörungen irgendein Medikament oder so etwas geben. Wenn das Kind auf dem Spielplatz ist und hat sich irgendwo angeschlagen, da müssen nicht die Notfall- Globuli gleich hinterher oder irgendetwas anderes. Auch als Arzt sollten wir es nicht unterstützen, indem man nicht 1000 solche Dinge aufschreibt, die nur für Befindlichkeitsstörungen sind. Das Kind soll nicht lernen, es kommt ohne Medikament nicht durch den Tag. Es gibt keinen Tag, wo nicht irgendein kleines Problemchen bei einem Kind auftaucht. Es braucht nicht immer Medikamente. Was wir im Gegenteil tun sollten, ist Eltern und Kinder ermutigen. Das wünsche ich mir, dass wir das mehr schaffen, dass ich das früher gelernt hätte, als ich es gelernt habe. Dass wir Eltern ermutigen, selbstständig mit kleinen Problemen umzugehen. Nicht immer gleich, um irgendwelche Hilfsmittel oder sonst etwas zu fragen. Und was ich für mich selber gelernt habe, was die Jüngeren, glaube ich, viel besser machen – unsere jungen Kollegen sind oft unglaublich gut, dass sie sich dauernd selber hinterfragen, immer wieder – dass sie die Leitlinien lesen, dass sie nicht nur lesen, dass sie sie verstehen, dass sie sie lernen, dass sie sie kennen und dann auch anwenden. Und, auch das habe ich selber für mich sehr mühsam lernen müssen, wie gut Leitlinien sind und wie sehr man davon profitiert, wenn man weiß, warum man etwas macht und das auch gut begründen kann.

Axel Enninger: Okay, Stephan, vielen Dank, ein bisschen Retrospektiv-Geschichte. Ich glaube, was wir beide vielleicht ja auch sagen können: Es ist die Zeit lange vorbei, dass der Oberarzt, der Chefarzt, der alleinige Herrscher über Wissen ist und damit auch immer weiß, wie es richtig oder falsch ist. Im Gespräch mit Eltern, neudeutsch „shared decision making“, aber eben auch in den Teams, in den Kliniken darauf hören, wenn da ein Junger ist, der sagt, kann das nicht so oder so sein? Ich glaube, nur dann, in einer gemeinsamen Teamarbeit wird man auch besser und die klinische Versorgung unserer Kinder wird besser. Vielen, vielen Dank, Stephan, das hat mir große Freude gemacht. Ich danke dir ganz herzlich für das Gespräch. Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, danke ich fürs Zuhören. Wir werden vielleicht ein paar Leitlinien in die Shownotes schreiben, Stephan, oder? Ich glaube, das sollten wir tun. Ein paar Dinge, die uns wichtig sind. Da verlinken wir diese Leitlinien in die Shownotes. Und wenn es Ihnen gefallen hat, dann freuen wir uns über eine positive Bewertung, auf welcher Plattform auch immer. Empfehlen Sie uns weiter und bleiben Sie uns weiter gewogen. Vielen Dank fürs Zuhören!

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem, empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

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