consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #2 - 19.11.2021
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Verstopfung – ein hartes Thema
Dr. Axel Enninger …
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.
Axel Enninger: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von: consilium – der Pädiatrie-Podcast. Ich freue mich, heute meinen Freund und Gastroenterologen-Kollegen Stefan Buderus als Gesprächspartner zu haben. Stefan Buderus ist der Chefarzt des Marien-Hospitals in Bonn. Er leitet dort die pädiatrische Abteilung und er ist ein sehr erfahrener Kindergastroenterologe. Wir beide machen gemeinsam die consilium collegiale-Veranstaltungen, wo es um gastroenterologische Erkrankungen geht. Unser heutiges Thema ist ein Thema, zu dem wir beide so eine gewisse Hassliebe haben, denn es ist a) sehr relevant, b) gut zu behandeln, c) aber auch bei niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte kein Lieblingsthema. Stefan willst du sagen, worüber wir reden?
Stefan Buderus: Ja, das tue ich gerne. Danke erst mal für die freundliche Begrüßung und das große Lob. Das Thema, über das wir reden heute, ist ein hartes Thema. Ein sprichwörtlich hartes Thema. Heute ist das Thema – du hast es ausgesucht, ja, und ich habe überlegt. Aber natürlich ist es ein wichtiges Thema. Das Thema ist Obstipation.
Axel Enninger: Also, wenn wir im Jargon reden, ist es „Obstipobsti“, Obstipation – ein hartes Thema, tatsächlich ein relevantes Thema. Stefan, schätz doch mal ab: Wie relevant ist denn das Thema in der Kinder- und Jugendpraxis und vielleicht im Vergleich dazu in unserer kindergastroenterologischen Sprechstunde? Wie häufig ist es da?
Die Verstopften verstopfen die Gastro-Ambulanzen
Stefan Buderus: Wenn man jetzt in die wissenschaftliche Literatur geht, würde man sagen, dass etwa jeder zehnte Besuch bei einem Kinder- und Jugendarzt durch Obstipation bedingt ist. Wenn ich auf das zurückgreifen darf, was du schon angesprochen hast, unseren gemeinsamen Bauchschmerz-Tag beim consilium collegiale Gastro, wenn wir da die Kolleginnen und Kollegen immer wieder fragen, bei Einleitung dieses Themas, dann kommt eigentlich eine viel höhere Rückmeldung und man hat das Gefühl, alle Kinder- und Jugendärzte beschäftigen sich mit diesem Thema jeden Tag. Wir als Kinder-Gastroenterologen haben auch diese Patienten, und zwar sowohl als ambulante Patienten, aber auch tatsächlich als stationäre Patienten. Und auch hier wieder, wenn ich im Jargon rede, würde ich sagen, unser Jargon als pädiatrische Gastroenterologen ist ja teilweise, dass „die Verstopften uns unsere Gastro-Ambulanzen verstopfen“ und wir deswegen zum Beispiel weniger Zeit haben, uns um Patienten, zum Beispiel mit Crohn und Colitis ulcerosa zu kümmern. Oder andere Erkrankungen, wo wir aus fachmedizinischer Sicht sagen, die sind eigentlich schwerer krank und die brauchen mehr unserer ärztlichen Zeit. Also ich sehe die Patienten mit Obstipation in meiner täglichen Praxis – täglich! – und zwar egal, ob stationär oder ambulant.
Morbus Hirschprung zeigt sich in den ersten vier Lebenswochen
Axel Enninger: Umso wichtiger wäre es ja, die Dinge, die wir beide loswerden möchten, tatsächlich heute zu verbreiten. Es gibt ja solche Mythen um diese Erkrankung: um die Ursache und um die Diagnostik und um die Therapie. Und fangen wir mal mit etwas an, was bei uns Kinder- und Jugendärzten quasi engrammiert ist. Wir alle haben „Kreuzerl-Tests“ gemacht, wir alle haben Multiple-Choice-Tests gemacht und die Frage, die immer kam: Was ist eine der Ursachen der chronischen Obstipation im Kindesalter? Und das richtige Kreuz war immer beim Morbus Hirschsprung. Sag doch mal, wie relevant dieses Wissen ist, was wir damals gelernt haben für die Multiple-Choice-Tests.
Stefan Buderus: Morbus Hirschprung ist eine wichtige Diagnose, die wir wissen müssen, aber diese Diagnose ist nicht bei jedem Kind mit Verstopfung zu vermuten. Ganz im Gegenteil. Also Morbus Hirschsprung, angeborene Störung des Darmnervensystems, kennzeichnet sich durch eine frühzeitig auftretende Obstipation, schwere Obstipation. Diese Kinder schaffen es wirklich nicht, den Stuhl zu entleeren aufgrund der fehlenden Relaxationsmöglichkeiten der Muskulatur, der ganzen distalen Muskulatur. Wie gesagt, eine angeborene Erkrankung. Das heißt, hier ist der wichtige anamnestische Hinweis schon, die erste wichtige Frage, immer: ‚Wann fing denn das Beschwerdebild der Stuhlentleerungsstörung, wann fing die Obstipation an?‘ Und die spezifische Frage ist dann noch: ‚Wann hat denn Ihr Kind das Mekonium abgesetzt?‘ Oder in einfachen Worten: das Kindspech, wann ist das abgesetzt worden? Das sollte nach 24 Stunden erfolgt sein, spätestens nach 48 Stunden. Das sind Kriterien. Mekoniumabgang später als 24 Stunden, beziehungsweise später als 48 Stunden auf jeden Fall: Das wäre ein sogenanntes Rote-Flaggen-Signal oder -Symptom in Hinblick auf das mögliche Vorliegen eines Morbus Hirschsprung. Ansonsten sind das Kinder, die dann frühe Obstipation zeigen. Es gibt eine schöne Studie aus England, die strukturiert solche invasive Diagnostik durchführen. Da konnte wirklich gezeigt werden: Wo findet man die Hirschsprung-Patienten? Ganz überwiegend bei Kindern, bei denen die Obstipation in den ersten vier Lebenswochen aufgetreten ist und nur ganz, ganz selten bei Kindern, die älter sind als vier Wochen.
Axel Enninger: Das ist auch die Erfahrung in der Sprechstunde. Wenn man die Eltern dann fragt: ‚Wie lang besteht denn das schon?‘ Die erste Antwort ist: ‚Schon immer‘. Und wenn man dezidiert nach den ersten vier Lebenswochen fragt, dann ist praktisch immer die Antwort: ‚Nein, da war es eigentlich noch okay.‘
Stefan Buderus: Genau.
Von tausenden Obstipationspatienten einer mit Tethered Cord oder Hypothyreose
Axel Enninger: Ich denke, die Frage muss man stellen. Es gibt aber noch ein paar andere Ursachen. Also wenn man, sage ich mal, die ganz schwierigen Fragen im Multiple-Choice-Test bekam, dann war immer eine der Fragen, die man auch ankreuzen musste, bzw. der Antworten, die man ankreuzen musste: Tethered Cord als Ursache. Kannst du dazu etwas sagen? Wonach muss ich denn da fragen anamnestisch?
Stefan Buderus: Da wäre dann zu fragen nach einer auffälligen Schwäche der unteren Extremitäten entweder schon länger bestehend oder eben seit kürzerer Zeit aufgetreten. Das würde bedeuten, dass auch eine Motorikstörung, begleitende Motorik, der unteren Extremität auftreten kann. Außerdem, wäre da auch noch mal wichtig, nach dem Reflexstatus zu gucken, Patellarsehnenreflex und auch Bauchhautreflex. In den Büchern steht auch immer Analreflex und so weiter. Also, Analreflex finde ich persönlich schwierig auszulösen. Aber Bauchhautreflex ist etwas, das kann man gut auslösen. Beidseits kann man es untersuchen. Also Reflexstatus und Frage und auch Beobachtung tatsächlich: Wie bewegt sich das Kind? Gibt es einen Hinweis auf eine distale Muskelschwäche? Hast du schon mal solch einen Patienten gehabt?
Axel Enninger: Ich habe einmal einen Patienten gehabt. Und vielleicht, um das noch mal klarzumachen: Die von dir vorhin zitierte englische Studie spricht ja davon, dass man fragen soll: ‚Gab es neu aufgetretene Schwäche in den Beinen in den letzten sechs Monaten?‘ Ich glaube, das ist auch eine anamnestische Frage, die wir unbedingt, unbedingt loswerden wollen. Und dann noch etwas aus dem Thema ‚Ankreuzl-Test für Ärzte‘. Was wir auch immer ankreuzen mussten, war das Thema Hypothyreose. Ja. Gibt es theoretisch Hypothyreose als Ursache einer Obstipation? Ist das relevant? Wonach fragen wir da bzw. wann machen wir welches Labor? Können wir vielleicht daran gleich anschließen.
Stefan Buderus: Okay, also zum einen bezüglich Tethered Cord würde ich hinzufügen zu deinem einen Patienten – auch ich habe einen, den wir diagnostiziert haben – und wir sehen ja sicherlich zusammen schon tausende Obstipations-Patienten: Also eine sehr seltene Diagnose, aber kommt vor. Dann ist eben wichtig, das wollte ich noch mal sagen, Kernspintomographie, entsprechend Lendenwirbelsäule als apparative Diagnostik. Und jetzt Hypothyreose, auch da wieder: einen Patienten, ich glaube es war ein Mädchen, habe ich gefunden, die es tatsächlich hatte. Also da wurde nach einer entsprechenden Substitution von Schilddrüsenhormonen die Stuhlentleerung tatsächlich besser.
Initial kein Labor, im Verlauf Basislabor ergänzt um Schilddrüse und Zöliakie
Stefan Buderus: Ansonsten, wenn du nach sinnvollem Labor fragst… Wobei wichtig wäre mir da zu sagen: Bei einem normalen verstopften Patienten, der das erste Mal in eine kinderärztliche Sprechstunde kommt oder selbst, wenn er zu uns in eine spezialisierte gastroenterologische Sprechstunde kommt, würde ich bei einer Erstvorstellung wahrscheinlich initial überhaupt kein Labor machen, es sei denn, es gibt aus der Anamnese oder vom Befund irgendwelche Auffälligkeiten. Nur wenn bei einer Verlaufsuntersuchung die Therapie wider Erwarten nicht erfolgreich gewesen ist, würde ich als Basislabor, wenn es indiziert ist, tatsächlich ein Blutbild machen. Ich würde schon – wir haben über die Schilddrüse gesprochen – ich würde mal TSH bestimmen. Wichtig ist aber auch, und das ist viel häufiger, dass wir daran denken, ich würde an eine Zöliakie, an das mögliche Vorliegen einer Zöliakie denken. Denn auch bei einer Zöliakie kann tatsächlich Obstipation ein klinisch wegweisendes Symptom sein. Zöliakie ist nicht immer dicker Bauch, Durchfall und schlechte Laune, sondern es kann auch mal tatsächlich eine Obstipation das wegweisende Symptom sein. Also hinsichtlich der Zöliakie-Diagnostik würde ich dann tatsächlich ein Serum-IgA bestimmen und IgA-Serum-Transglutaminase-Antikörper. Das wäre das Labor, was ich da machen würde. Einen Eisen-Stoffwechsel, gut. Also einfaches Basislabor ergänzt um Schilddrüse und um Zöliakie und ich denke man wird mehr Treffer bei Zöliakie finden als bei Hypothyreose.
Bei jedem 10. Kind mit Zöliakie ist Obstipation das Leitsymptom
Axel Enninger: Absolut. Würde ich auch so sehen. Und spannenderweise, das ist glaube ich in die Multiple-Choice-Fragen heutzutage immer noch nicht eingegangen. Es gibt ja Studien, die sagen, ungefähr 10 % aller Zöliakie-Patienten haben Obstipation als Leitsymptom. Sozusagen die Mythen, die sich auf ärztlicher Seite oft halten. Ein Mythos, den es auch gibt zwischen Ärzten und Eltern, immer wieder mal hin und her: ‚Er trinkt zu wenig.‘
Stefan Buderus: Hm [bestätigend].
Wer viel trinkt, macht viel Pipi, aber woher soll das Wasser wissen, dass es in den Darm soll?
Axel Enninger: Trinken und Obstipation: Erstens ist das eine Ursache? Und zweitens ist das ein adäquater Therapieansatz zu sagen: ‚Er soll mehr trinken‘?
Stefan Buderus: Gut, ich nehme jetzt mal… ich klaue jetzt bei dir, aber es ist ja öffentlich, die anderen hören zu und du weißt, die Quellenangabe ist damit korrekt gemacht: Was passiert, wenn man viel trinkt? Was sagt Herr Enninger? Wer viel trinkt, macht viel Pipi und da hat er einfach total recht. Das ist logisch. Und dann kommt immer noch die Zusatzfrage: Woher soll das Wasser denn wissen, dass es in den Darm soll? Also der Zusammenhang ist nicht korrekt. Durch viel Trinken macht man viel Diurese, aber verbessert nicht die Stuhlentleerung. Da ist die Datenlage relativ klar. Was schon bezüglich des Trinkens sinnvoll ist: Im Rahmen der Erhebung der Ernährungsanamnese sollte man fragen, wie die Trinkmenge ist. Die Trinkmenge sollte normal sein. Also, es soll sich nicht um eine Trockenpflaume handeln, sondern die Trinkmenge sollte normal sein und die Kinder sollten gegebenenfalls motiviert und die Eltern beraten werden, wie man eine normale Tagestrinkmenge hinkriegt. Eine gesteigerte Trinkmenge ist nicht erforderlich und im Sinne der Behandlung einer vorhandenen Obstipation auch nicht sinnvoll.
Übermäßige Milch-Trinker zurücksetzen auf ein normales Maß
Axel Enninger: Okay, vielleicht ein Kommentar zu den Viel-Milch-Trinkern.
Stefan Buderus: Ja, das ist noch ein guter Punkt. Das gehört zur Ernährungsanamnese tatsächlich dazu. Diese Viel-Milch-Trinker, wenn ich das jetzt sage – unsere Zuhörerinnen und Zuhörer sind ja überwiegend vermutlich Kinder- und Jugendärzte – sie wissen alle, sie kennen alle diese Kleinkinder, die sich von ein bis zwei Liter, manchmal sogar zweieinhalb Liter Milch ernähren, statt altersentsprechende, abwechslungsreiche, bunte, leckere, schmackhafte Mischkost zu genießen. Es gibt Hinweise darauf, dass solch ein übermäßiger Milchgenuss, tatsächlich auch einen pathophysiologischen Mechanismus vermittelt, über eine gewisse Stimulation des Opiat1-Rezeptors ist eine Theorie. Die andere Theorie ist, dass das möglicherweise auch Ausdruck einer subklinischen Entzündung sein kann, im Kolon. Beide Mechanismen haben das Potenzial, dass eine distale Motilitätsstörung, sprich Obstipation ausgelöst werden kann. Wenn man solch ein Kind anamnestisch wirklich identifiziert, dann ist die Empfehlung, diese Trinkmilchmenge mal zu reduzieren. Es gibt eine Studie aus Italien, 1998 im New England Journal, Iacono ist der Erstautor, ist sie publiziert worden. Da hat man das mal im Rahmen einer Studie kontrolliert gemacht und hat solche Kinder gesucht, gefunden und hat sie eine Sojamilch trinken lassen. Sie haben tatsächlich einen signifikant positiven Therapieerfolg gehabt. Diese Studie ist in der Form von anderen Autoren so nicht repliziert worden. Aber wir alle als pädiatrische Gastroenterologinnen und Gastroenterologen haben in unseren Sprechstunden und Ambulanzen Kinder, die eben solche übermäßigen Milchtrinker sind. Und wenn wir die zurücksetzen auf ein normales Maß – beziehungsweise für eine diagnostische Phase zum Beispiel, wenn sie keine Säuglinge mehr sind – auf ein Sojaprodukte setzen, dann erlebt man tatsächlich manchmal einen sehr guten therapeutischen Effekt, das stimmt.
Axel Enninger: Übrigens auch, ja, eine der klassischen Ursachen für einen Eisenmangel. Auch da muss man immer wieder mal nachfragen, wie viel Milch sie tatsächlich trinken. Das gehört aus meiner Sicht unbedingt dazu. Ein nicht ganz so umstrittenes, aber doch hoch geranktes Thema ist immer das Thema Ballaststoffe. Wenn ich Bekannten erzähle, die nicht im Medizinbusiness sind, dass ich mich als Kindergastroenterologe auch unter anderem mit dem Thema Obstipation beschäftige, antworten die meist: ‚Naja, das liegt doch sicher daran, dass die alle Weißbrot essen und kein ordentliches Vollkornbrot.‘ Zum Thema Ursache der Obstipation und Ballaststoffe, magst du dazu ein bisschen sagen?
1 Anmerkung: Hier sind Opiat-, und nicht Motilin-Rezeptoren gemeint
Altersentsprechende, abwechslungsreiche, bunte, leckere Mischkost
Stefan Buderus: Auch das ist untersucht worden und da gibt es relativ ernüchternde Zahlen –oder erfreuliche Zahlen. Das heißt, hier ist es so, dass Ballaststoffanreicherung keine empfohlene Therapie ist, auch nicht nach der aktualisierten Leitlinie. Auch hier, ähnlich wie beim Trinken, ist die Empfehlung eine altersentsprechende Kost mit einem altersentsprechenden Ballaststoffanteil. Das wäre die Ernährungsberatung, die wir geben würden, die ich zumindest geben würde. Ich würde nicht empfehlen, dass sie Weizenkleie in irgendwelche Joghurts drehen oder sonst irgendwelche Sachen. Das ist für die Kinder extrem aufwendig, für die Mütter belastend. Das macht nur sinnlosen Stress. Hier wäre tatsächlich die Aufgabe, altersentsprechende, abwechslungsreiche, gemischte, bunte, schmackhafte Kost, so wie ich es gerade schon mal gesagt habe. Und das ist das, was ich empfehle. Wie machst du es?
Axel Enninger: Genau. Ich erlaube die normale schwäbische Brezel, die kein Vollkornbrot ist. Es muss keine Vollkornbrezel sein, es darf eine normale Brezel sein. Das entlastet viele Familien zumindest in meiner Sprechstunde schon immer sehr. Ich bringe immer noch das Beispiel, was denn passiert, wenn man Haferflocken mit ein bisschen Wasser in einer Schale anrührt und wie denn das aussieht. Da weiß jeder, das wird eine steinharte, klebrige Masse. Das Ganze bringt tatsächlich nur was – und da gibt es auch ein paar Untersuchungen dazu – wenn ich es schaffe, gleichzeitig mit diesen Ballaststoffen, Haferflocken oder Kleie oder wie auch immer, gleichzeitig viel zu trinken. Da gibt es bei Erwachsenen einen gewissen positiven Effekt. Aber wir würden unseren Kindern das sicher nicht empfehlen, sondern wirklich eine normale Mischkost empfehlen.
Stefan Buderus: Genau. Es ist ja sogar so, dass, was du jetzt gerade gesagt hast, bringt mich noch mal darauf. Ich weise in bestimmten Situationen sogar darauf hin, dass eine gesteigerte Ballaststoffzufuhr – so wie ich gerade gesagt habe mit Leinsamen und so weiter – dass das im Einzelfall bei Patienten, wenn es zum Beispiel schwer mehrfach behinderte Kinder sind und wo die Eltern besonders motiviert sind, besonders gesunde Ernährung und eine besonders ballaststoffhaltige zu machen und die Kinder bewegen sich relativ wenig… Also wenn man zu viel Ballaststoffe in einen Patienten hineinstopft, dann kann das ja sogar – das kennt man auch aus der Geriatrie – kann das auch wirklich negative Effekte haben. Es sind Fallpublikationen beschrieben, wo ein Ballaststoff-Bezoar im Darm dann zu Ileus- oder Subileus-Zuständen geführt hat. Also das heißt, es ist nicht in jedem Fall völlig unproblematisch, das sollte man auch wissen.
Axel Enninger: Vielleicht verraten wir noch einen kleinen gastroenterologischen Taschenspielertrick. Thema fruktosehaltige Getränke, denn da gibt es tatsächlich ein paar wenige gute Daten dazu. Wir reden häufig über Fruchtzucker als Ursache von Bauchweh und Blähungen und Durchfall. In diesem Fall können wir das ein bisschen nutzen, oder?
Stefan Buderus: Man könnte das tatsächlich als Stuhlweichmacher anbieten. Man muss es dann aber ausbalancieren. Wenn die Milch durch übermäßigen Apfelsaftkonsum ersetzt würde, dann wäre das auch bei solchen Patienten nicht günstig. Das Prinzip ist ja, wenn das Patienten sind, die eine gewisse Fruktosemalabsorption haben – das heißt also, der Fruchtzucker wird nicht komplett im Dünndarm resorbiert, sondern unresorbierter Zucker kommt in den Dickdarm – das zieht Wasser und ist osmotisch wirksam. Das könnte insofern eine leicht laxierende Wirkung haben, ja.
Axel Enninger: Okay.
Stefan Buderus: Machst du das?
Axel Enninger: Ja, manchmal empfehle ich es. Das finde ich ein relativ probates Mittel, wenn man sagt, also ein bisschen Apfelsaft, bei einem, von dem man weiß, dass der Apfelsaft nicht gut verträgt, kann man das, finde ich, zusätzlich schon mal machen.
Stefan Buderus: Gab es schon mal Beschwerden? Bauchschmerzen?
Axel Enninger: Nö.
Stefan Buderus: Gut abgewogen!
Wenn es chronisch ist, Stuhlweichmacher und keine Einläufe
Axel Enninger: Jetzt haben wir ja über viele Dinge gesprochen, die man nicht machen sollte. Lass es uns mal umdrehen. Was ist denn unsere unbedingte Empfehlung an unsere Kolleginnen und Kollegen? Was sind denn unsere eindeutigen Ratschläge, was wir unbedingt empfehlen würden? Was sagt die Leitlinie? Es ist ja nicht nur unsere persönliche Empfehlung. Was sagt denn die Leitlinie, was wir dann machen?
Stefan Buderus: Also – wir haben ja zu Beginn des Gespräches schon über Anamnese gesprochen – am Anfang steht die Anamnese. Das ist wichtig, um zu identifizieren, dass es sich, so wie bei über 90 – über 95 % – um eine ganz normale Obstipation handelt. Dann finde ich es wichtig, dass das Thema sehr ernst genommen wird. Also das Thema sollte… Dafür brauchen die Kolleginnen und Kollegen Zeit. Dafür brauchen wir ja auch noch Zeit. Also Zeit nehmen ist wichtig, für das Beratungsgespräch, das Konzept erklären – wir kommen ja vielleicht gleich noch drauf. Und wahrscheinlich dachtest du jetzt: Was wäre unsere primäre therapeutische Empfehlung zum Stuhlweichmachen. Wir geben eine medikamentöse, laxierende Therapie. Das Medikament der Wahl – was auch in der Leitlinie auf Platz Nr. 1 ist, und zwar sowohl in der jetzt aktualisierten deutschsprachigen Leitlinie unter Federführung der GPGE als auch in der europäischen ESPGHAN-Leitlinie – das Medikament der ersten Wahl ist Macrogol, also Polyethylenglykol entweder als 4000er Molekulargewicht oder als 3350er Molekulargewicht. Diese Produkte haben meistens Elektrolyte dabei. Das Medikament der zweiten Wahl, für diejenigen, die das Macrogol nicht mögen, wäre das eher etwas altmodischere Lactulose-Präparat, was ja dann für die meisten Patienten in Form eines Sirups verabreicht wird. Aber, um das mal hier direkt zu sagen, ich persönlich habe das seit Jahren nicht mehr verordnen müssen.
Axel Enninger: Wollen wir kurz mal sagen, was macht denn Macrogol eigentlich?
Stefan Buderus: Macrogol – Stuhlweichmacher wird nicht resorbiert, geht sozusagen in den Dickdarm. Es ist ja auch das Medikament, das wir benutzen, um bei Hochvolumentherapie den Dickdarm zu spülen als Vorbereitung für eine Koloskopie. Das heißt also, ich erkläre den Eltern: Die Parole ist „guter Rutsch“. Also der Stuhl wird weicher, wird voluminöser und kann besser ausgeschieden werden.
Axel Enninger: Okay, jetzt hast du gar nicht gesprochen von Einläufen. Wie ist denn die Rolle von Einläufen? Ganz am Beginn der Therapie und auch im weiteren Verlauf?
Stefan Buderus: Also wir versuchen grundsätzlich bei den Kindern Einläufe zu vermeiden. Vor allen Dingen bei chronischer Obstipation oder wenn es sich zeigt, dass es sich um eine chronische Obstipation handeln wird, versuchen wir Einläufe oder andere rektale Therapien nach Möglichkeit zu vermeiden, um die Kinder anal nicht zu traumatisieren. Auch da würde ich mal die Perspektive so wählen: Wie sehen wir die Kinder, wenn sie in die Kinderklinik oder in eine spezialisierte kindergastroenterologische Sprechstunde kommen? Sie sind zum Teil deutlich anal traumatisiert durch eine solche rektale Vorbehandlung. Da ist es zum Teil noch nicht mal möglich, die Analregion auch nur zu erwähnen, geschweige denn anzusehen. Bei Kindern, die eine ganz akute Obstipation haben, da kann es sinnvoll sein, da kann es eine Option sein. Das steht auch in der Leitlinie drin, dass man eben für eine akute und kurzfristig bestehende Notfallsituation, also akute Obstipation, nach rektal entlastet. Auch hier wieder, der Slang wäre „entkorkt“. Da würde man… kann man dann Klysmen nehmen. Wobei wir da dann schon an Probleme kommen. Welches Klysma? Wir würden nicht salinische Klysmen empfehlen, die die Standard-Klysmen sind. Wir können gerne gleich darüber sprechen. Unter Umständen hilft sonst CO2 oder Glycerinzäpfchen, also CO2-Laxans oder Glycerinlaxans oder eben ein Medikament, einen Mikro-Einlauf. Da ist dann Sorbit drin. Die früher hier verfügbaren Sorbit-Klysmen, die wir ansonsten für seltene, akute Interventionen benutzt haben, sind jetzt im Moment in Deutschland nicht mehr verfügbar.
Axel Enninger: Okay, aber nur noch mal, um es klar zu sagen: Wenn wir über Klysmen und rektale Manipulation reden, dann reden wir über die akute Obstipation und nicht über die Kinder, die ein chronisches Problem haben.
Stefan Buderus: Auf keinen Fall.
Axel Enninger: Und vielleicht auch noch eindeutig den „Disclaimer“: Wir tun das nicht mit Gewalt, sondern wir tun das nur unter ordentlicher Sedierung der Kinder bzw. wenn sie zustimmungsfähig sind mit Zustimmung der Kinder oder eben eindeutig unter Sedierung.
Sprecherin: Wir hoffen, dass Ihnen der consilium Pädiatrie Podcast bis hierhin wieder gut gefallen hat. Bevor es gleich spannend weitergeht, möchten wir Sie passend zum heutigen Thema auf das aktuelle consilium-Themenheft „Obstipation“ aufmerksam machen.
Dieses und viele weitere interessante consilium-Themenhefte sowie die spannendsten consilium Fragen und Antworten Hefte können Sie auf unserer Homepage unter www.infectopharm.com/consilium finden und downloaden.
Auch den hilfreichen „Geschäftsbericht“, auf den Dr. Buderus noch im Laufe des Podcasts zu sprechen kommen wird, können Sie unter servicematerial@infectopharm.com bei uns gerne anfordern.
Außerdem möchten wir Sie auf unsere Consilium Collegiale Fortbildungen aufmerksam machen. Ab nächstem Frühjahr rechnen wir fest damit, wieder in gewohnter Form tagen zu dürfen. Unter den sieben verschiedenen Themen befindet sich unter anderem die „Pädiatrische Gastroenterologie – vom Bauchschmerz bis zur Diagnose“. Die Referenten sind die beiden Protagonisten dieses Podcasts Dr. Buderus und Dr. Enninger. Sollten Sie diese Fortbildung noch nicht kennen, dann achten Sie auf die kommenden Einladungen. Es lohnt sich!
Die erwähnten Links und Email Adressen finden Sie natürlich in den Show Notes dieses Podcast.
Jetzt wünschen wir Ihnen aber zunächst weiterhin viel Freude mit dem consilium – Pädiatrie Podcast!
Ihr Team von InfectoPharm.
Desimpaktion: Es wird rumpeln und pumpeln
Axel Enninger: Aber jetzt gehen wir noch mal zu denen, die wir alle so im Kopf haben, nämlich zu den Kindern mit einer chronischen Obstipation. Da hattest du Macrogol schon erwähnt. Wir behandeln ja in verschiedenen Phasen. Du hattest auch salopp das Thema „entkorkt“ schon erwähnt. Rein medizinisch würde man Desimpaktion sagen.
Stefan Buderus: Richtig.
Axel Enninger: Was immer ja das Erste sein muss. Wie viel Macrogol gebe ich denn zur Desimpaktion? Wie viel brauche ich denn da? Und wie mache ich das? Steigende Dosierung, hohe Dosierung, eine Woche, drei Tage? Wie mache ich das?
Stefan Buderus: Ganz individuell. So mache ich das zumindest. Wobei ich zur Orientierung Dosisbereiche angeben kann. Also zur Desimpaktion – und auch diese Dosisbereiche orientieren sich natürlich an den Angaben aus den Leitlinien – sind üblicherweise 1 bis 1,5 Gramm pro Kilogramm täglich notwendig. Wären dann, wenn die Patienten gut eingestellt sind, und das heißt dann tatsächlich für die Dauertherapie 5 bis 7 Stuhlentleerungen pro Woche wäre die Unterkante. Ich sage den Eltern als Faustregel immer: eine bis maximal drei Stuhlentleerungen pro Tag wären ein Ziel. Das schaffen Patienten meistens mit Dosisbereichen von 0,25 bis 0,5 g pro Kilogramm pro Tag. Desimpaktion – wenn ich da jetzt an die wirklich schwer verstopften Patienten denke, ist es so, dass wir tatsächlich auch immer wieder Kinder sogar stationär aufnehmen müssen, weil das unter häuslichen Bedingungen mit den genannten Dosisbereichen nicht funktioniert hat. Und dann würden wir unter stationären Bedingungen eine orthograde Darmspülung machen und den Kindern, die einen solchen ersten ambulanten oralen Desimpaktionsversuch nicht erfolgreich abgeschlossen haben, wie zu einer Koloskopievorbereitung orthograd darmspülen. Je nach Patientenalter und nach Patientenbereitschaft mitzuarbeiten von temporär über eins, zwei, drei, manchmal dauert es auch vier Tage.
Axel Enninger: Okay, also klare Nachricht. Macrogol hilft nur, wenn ich vorher eine ordentliche Desimpaktion gemacht habe. Ein bisschen Macrogol – „Na, versuchen Sie’s mal“ – hilft in aller Regel nicht, sondern erst mal Desimpaktion. Und ich sage den Eltern immer, ich verordne Ihnen jetzt bewusst diese hohe Dosis. Und wenn der Apotheker Sie streng anguckt und sagt: ‚Meint der das denn ernst?‘, sage ich immer: ‚Ja, das meint der ernst.‘ Wir brauchen am Anfang hohe Dosen. Ich empfehle häufig, das freitags anzufangen…
Stefan Buderus: Genau.
Axel Enninger: … damit die – salopp gesprochen – Schweinerei übers Wochenende zu erledigen ist. Also wichtiger Punkt: Desimpaktion und hohe Dosen Macrogol.
Stefan Buderus: Das, was du da gerade in einem Nebensatz gesagt hast, finde ich extrem wichtig. Ich weise auch spezifisch auf die Schweinerei hin und dass da wirklich zum Teil viel `rauskommt. Es ist ja teilweise so, dass die Eltern sich das überhaupt nicht vorstellen können. Und deswegen dieser Punkt mit dieser Freitagsempfehlung. Das mache ich exakt genauso. Aber wirklich auch ansprechen, das finde ich wichtig, ansprechen, dass da viel `rauskommt. Und das Zweite, was ich anspreche ist, dass es am Anfang sein kann, dass das Kind vielleicht sogar mehr Bauchweh hat als vorher. Es rumpelt und pumpelt, aber das darf sie nicht wundern, weil die Stuhlmassen ja in Bewegung gesetzt werden. Sonst ist es leider ein häufiger Reflex von Eltern, die sich das nicht vorstellen können, dann sofort aufzuhören, weil sie sehen: Oh, das Kind hat Bauchweh und irgendwas passiert. Aber sie sind nicht bereit, den Weg konsequent zu gehen. Deswegen finde ich das wichtig, dass man wirklich darauf hinweist. Es wird rumpeln und pumpeln. Es kann am Anfang etwas mehr Bauchweh geben und es kann eine echte Schweinerei werden.
Die Dauertherapie wird lange dauern, richtig lange
Axel Enninger: Okay, also dann ist der Bauch leer. Und wie mache ich dann weiter? Die Eltern fragen dann immer: ‚Wie mache ich das? Eine Woche? Zwei? Wie lang mache ich das?‘
Stefan Buderus: Richtig lange. Das Wichtigste ist, dass man es richtig lange macht. Von dem, ich würde mal sagen, weltweiten Kinderobstipationspapst Professor Benninga aus Amsterdam stammt die Daumenregel, dass die Behandlung einer Obstipation immer mindestens so lange dauert, wie die Obstipation bestand. Wenn man sich vorstellt, dass wir in unseren Sprechstunden teilweise Kinder sehen, die diese Beschwerden schon seit einem oder anderthalb Jahren haben, dann sage ich denen auch: Es kann sein, dass es bis zu einem oder anderthalb Jahre dauert. Der wichtige Punkt ist, dass man das den Eltern am Anfang sagt: Es wird richtig lange dauern. Einer der häufigsten Fehler, der passieren kann, ist eben, dass man zu früh aufhört und dass dann die Kinder wieder negative Erfahrungen bei einer folgenden Stuhlentleerung haben, also schmerzhafte Stuhlentleerung und dass dann der gesamte negative Kreislauf von Rückhaltemanövern wieder einsetzt und dass man dann einen Rückfall der Obstipation hat. Es ist auch ganz klar in Studien gezeigt, dass es wirklich zum Teil lange dauert, bis man einen guten Therapieerfolg hat und es aber auch, wenn man zu früh aufhört, eine sehr hohe Rezidivquote gibt. Also wir reden hier wirklich von Monaten, also mindestens von Monaten und unter Umständen von Jahren.
Axel Enninger: Wichtig ist sicher noch mal auf die ausreichende Dosierung auch während dieser Dauertherapie hinzuweisen. Denn da ist ja die Erfahrung, oft auch die, dass Eltern versuchen, die Dosis zu reduzieren und dann mogeln sie sich irgendwie so durch den Tag. Die Kinder haben aber doch immer wieder noch mal Bauchschmerzen, immer wieder mal schmerzhafte Stuhlentleerungen. So kommt man zwar durch die Zeit, aber es ist natürlich langfristig keine gute Strategie, denn eigentlich müssen die Kinder ja lernen, dass Stuhlgang nicht weh tut und es völlig in Ordnung ist. Und ich sage da immer als Bauch-, als Daumenregel: 5 schmerzlose Stuhlentleerungen pro Woche mit einer Konsistenz wie Apfelmus und keine Rückhaltemanöver, kein Rumhampeln mehr. Das wäre für mich das Mindestkriterium, das man immer erst mal mindestens 8 Wochen haben muss, bevor ich überhaupt anfangen darf, über eine Dosisreduktion nachzudenken. Würdest du da widersprechen?
Stefan Buderus: Nee nee, wie gesagt, ich bin da sogar ein bisschen strenger oder proaktiver. Also bei mir ist eigentlich die Unterregel 7 Stuhlentleerungen pro Woche. Ich hätte es dann schon bei denen, die sich bis zu uns vorgearbeitet haben, dass sie wirklich täglich etwas absetzen. Okay, also so würde ich es dosieren, aber es geht ja exakt in die gleiche Richtung, wie du jetzt dargestellt hast.
Aufklärung, Stuhltraining und die Therapie nicht an eine Tüte Macrogol delegieren
Axel Enninger: Okay. Dann sagen wir okay, Dauertherapie mit Makrogol ist etabliert. Dann kommt immer noch das Stichwort Stuhltraining dazu.
Stefan Buderus: Genau.
Axel Enninger: Warum empfehlen wir das? Und sag mal, wie du den Eltern empfiehlst, wie die Kinder das tun sollen.
Stefan Buderus: Genau, das ist ein ganz wichtiges Thema. Also Eltern und auch Kinder- und Jugendärzt:innen können sozusagen die Therapie der Obstipation nicht an eine Tüte Macrogol delegieren und das war’s. Sondern zu diesem Behandlungskonzept kommt tatsächlich die Aufklärung über den Magen-Dickdarm-Reflex dazu. Das heißt also den Eltern und den Kindern erklären, dass der Magen-Darm-Trakt ein langer, langer Schlauch ist, der von der Lippe bis zum Po reicht. Und dass das so funktioniert, dass wenn wir an Essen denken oder wenn wir essen, dann setzt sich der lange Schlauch in Bewegung. Also wir füllen oben was rein. Der Schlauch setzt sich in Bewegung und kann nach unten Platz schaffen. Das heißt, es ist total normal, dass wenn wir essen, dass Stuhldrang entsteht im Zusammenhang mit der Mahlzeit oder nach der Mahlzeit, das ist der Magen-Dickdarm-Reflex. Diese Welle sollen die Kinder und die Eltern ausnutzen, indem sie die Kinder nach jeder Mahlzeit im Idealfall zur Toilette schicken und sich die Kinder Zeit nehmen auf einer Toilette, wo sie gut und bequem sitzen können. Idealerweise sollten sie ein Fußbänkchen haben, dass sie einen festen und guten Sitz haben, um sich dann entsprechend entleeren zu können. Das Ganze, dieses Stuhltraining auch noch verstärken durch einen Verstärker- und Belohnungssystem. Da gibt es die verschiedensten Pläne, wo man Prinzessinnen kleben kann, Maulwürfe kleben kann, wo man als Kind Geschäftsberichte führen kann, also Belohnungssystem. Die Eltern motiviere ich, dass sie vorher mit ihrem Kind vereinbaren, was der Preis ist, wenn das Bild schön gefüllt ist. Ob sie mit ihnen einmal ins Kino oder einen Freizeitpark fahren… also alles Mögliche, was die Eltern haben. Es sollte etwas sein, das für das Kind wichtig ist und wo das Kind sieht, dass es sich ein bisschen dafür anstrengen muss. Das wäre das verhaltenstherapeutische Modul, was zur Therapie, zur medikamentösen Therapie aus meiner Sicht – oder auch nach Leitliniensicht – unbedingt dazugehört. Also die Kinder sollten sehen und erleben, dass Stuhlgang kein Problem ist, sondern dass Stuhlgang unproblematisch ist und dass es sich sogar für sie in dieser Phase sprichwörtlich lohnt.
Axel Enninger: Okay, aber noch mal ganz klar: Wer eine Windel trägt, behält die Windel und wir raten dringend davon ab, sage ich mal „Sauberkeitstraining“ in dieser Phase zu beginnen. In aller Regel keine gute Idee, selbst wenn es Druck von der Kita gibt. Lieber diesen Druck aushalten, statt die Kinder da forciert zu Sauberkeit zu erziehen.
Stefan Buderus: Das ist richtig. Das, was ich jetzt gesagt habe, da denke ich tatsächlich an Kinder, die erstens keine Windel mehr tragen und zweitens eben auch in der Lage sind vom Entwicklungsalter. Da gibt es sehr unterschiedliche Angaben, das ist klar. Das kann sich jeder vorstellen. Das kann vielleicht mal ein Kind sein, das vier Jahre ist, aber so fünf oder sechs Jahre sollten die ungefähr alt sein, wenn sie das können. Bei den Windelkindern, wenn sie kleiner sind, können sich die Eltern dann jedes Mal wirklich ausgiebig freuen und auf diese Art und Weise, dadurch, dass das Kind sieht, was mit den Eltern passiert, kann man das so ein bisschen unterstützen.
Axel Enninger: Du hattest die Stuhlkalender vorhin schon erwähnt. Gibt es noch andere Materialien oder andere Dinge, die du empfiehlst?
Stefan Buderus: Ja, es gibt von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin Eltern-Erklär-Flyer zu den verschiedensten Themen und Obstipation ist ein Thema, für das es tatsächlich einen spezialisierten Flyer gibt. Auf der Homepage unserer Fachgesellschaft der GPGE gibt es ein unheimlich tolles Video, das aufgrund deiner Initiative aus den USA hierher nach Deutschland oder in den deutschen Sprachraum gekommen ist. Das wurde auf Deutsch vertont. „The Poo in You“, also „Der Stinker in dir“. Das ist ein lustiges Erklärvideo, wo einerseits die Obstipation, aber auch die normalen Vorgänge der physiologischen Stuhlentleerung beschrieben werden. Tatsächlich ist es so, wenn wir Kinder im Krankenhaus haben zu einer stationären Desimpaktion, gehört es zum Therapiekonzept dazu. Dann gibt es also Videogucken auf Rezept und die Familien sind angehalten, sich ein solches Video anzuschauen. Das ist formales und spezialisiertes Informationsmaterial, das man gut mitgeben kann. Und auch in meinem Sprechstundenzimmer, aber auch zu Hause habe ich eine Spezialbibliothek von lustigen Bilderbüchern – ich finde sie zumindest lustig und ich weiß, du auch. Das sind Bücher, die heißen „So ein Kack“ oder „Die Kackwurstfabrik“. Das sind lustige verschiedene Bilderbücher, die sich mit diesem Thema befassen und zum Teil wirklich interessante und richtig, ja, überraschende Erkenntnisse vermitteln. Damit können sich die Familien befassen. Es ist nämlich überraschenderweise immer wieder festzustellen, dass obwohl diese Familien teilweise durch dieses Thema sehr bedrückt und beeinträchtigt sind, sie trotzdem manchmal kaum damit umgehen können, es kaum verbalisieren oder in Sprache bringen können zwischen Eltern und Kindern. Und solche Bilderbücher können dabei tatsächlich eine Hilfe sein und eine Brücke bauen, dass man das Thema entkrampft, sprichwörtlich entkrampft besprechen kann. Ich denke, das trägt positiv zum Therapieerfolg bei.
Axel Enninger: Interessanter Aspekt, dieses verbalisieren können. Wir haben hier gelegentlich Soldatenkinder, also Kinder amerikanischer Soldaten in Stuttgart in der Behandlung. Allein sprachlich ist es tatsächlich interessant. Wir sprechen von „Number One“, wenn es um Pipi geht und „Number Two“, wenn es um Kacka geht. Das darf man allein schon gar nicht aussprechen. Sicher ein interessanter soziologischer Aspekt auch noch. Stefan, wir kommen langsam zum Ende. Auch wenn diese Podcast-Serie noch relativ neu ist, möchten wir gerne eine Tradition etablieren und die Tradition heißt: Der Gast darf zwei Dinge sagen, die er unbedingt positiv loswerden will im Sinne von „Bitte, bitte tun Sie es unbedingt!“ und zwei Dinge loswerden, die unter der Überschrift stehen: „Bitte lassen Sie es!“ Die Reihenfolge ist mir egal. Du darfst starten, wie du willst.
An Hirschsprung denken führt auf Umwege und eine korrekte Macrogoltherapie ist Darmtraining
Stefan Buderus: Okay, dann fange ich an mit denen, die mich nerven. Wahrscheinlich wusstest du es und deswegen hast du damit angefangen, dieses Thema Hirschsprung. Das ist etwas, was mich nervt, weil es tatsächlich diese Situation belastet und Druck ausübt. Die zuweisenden Ärztinnen und Ärzte sind ja tatsächlich in Not. Also: Nicht immer an Hirschsprung denken und auch nicht den Eltern gegenüber erwähnen oder auf die Überweisungen schreiben. Sie googeln es alle und denken, ihr Kind hat eine schwere angeborene Darmentleerungs-, Darmnervensystemstörung und die Kinder müssen operiert werden. Das führt auf Umwege. Das finde ich nicht gut. Wichtig ist die richtige Anamnese zu stellen, die richtigen Befunde zu erheben und zu entscheiden, muss man an Hirschsprung denken oder nicht? Aber nicht bei jedem an Hirschsprung denken! Das ist das eine, also nicht Hirschsprung. Das Zweite ist, nicht auf Omas, Nachbarn oder wer auch immer sonstige Ratgeber sind, hören, die dann sagen: ‚Du kannst doch nicht deinem Kind so lange solche schlimmen Medikamente geben. Das macht Darmlähmung.‘ Das nervt mich auch. Korrekt angewendet, so wie wir es jetzt besprochen haben, macht Macrogoltherapie keine Darmlähmung, sondern ist, insbesondere wenn man es in ein Darm- und Stuhltrainingskonzept einbindet, das glatte Gegenteil. Keine Darmlähmung, sondern Darmtraining. Also das nervt mich auch, diese Geschichte mit der Darmlähmung.
Ernst nehmen und Zeit nehmen für eine schwere chronische Erkrankung
Was mir wichtig ist? Da sind die zwei Sachen. Bitte diese Diagnose erst ernst nehmen, auch in der hoch-frequentierten und gestressten kinder- und jugendärztlichen Sprechstunde, wo, wenn jetzt wieder Infektionen kommen, irgendwelche Taktzahlen von vier bis sieben Minuten drin sind. Aber diese Familien brauchen mehr Zeit. Es ist eine schwere chronische Erkrankung und sie sind teilweise total belastet. Diese Kinder und Familien sind desozialisiert, denen geht’s richtig schlecht. Deswegen ernst nehmen und Zeit investieren, bitte. Das wäre mir wichtig. Und die zweite Botschaft, das hattest du auch angesprochen. Dieses Wahrnehmen, und zwar sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten der Kinder- und Jugendärzt:innen: Die Behandlung dauert länger, also richten sie sich auf eine Behandlung ein von mehreren Monaten, vielleicht sogar über ein Jahr. Und das gemeinsam tragen und Bestehen mit den Eltern und den Kindern, die immer wieder motivieren und ertragen, auch wenn es möglicherweise das Medikamentenbudget in Anführungsstrichen „belastet“. Auch hier finde ich, dass ist eine chronische Erkrankung, die muss adäquat behandelt werden und dann sollte man das halt auch so tun und so ertragen. Das gehört dazu und ist es richtig und wichtig.
Axel Enninger: Sehr gut, deine zwei Positiven, genau. Vielen Dank! Ich glaube, da hast du prägnant eine Zusammenfassung unseres Gespräches geliefert. Ich danke dir ganz herzlich für deine Zeit und für das Gespräch. Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, danke ich fürs Zuhören und hoffe, Sie hatten Freude an dem Gespräch. Ich hoffe, Sie haben wertvolle Dinge für sich herausgezogen. Ich hoffe natürlich auch, dass Sie Interesse daran haben, auch noch weitere Folgen von unserem Podcast zu hören. Vielen Dank und alles Gute.
Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!