consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #25 - 17.03.2023
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Kleine „Mitbewohner“, große Wirkung:
das Mikrobiom des Darmes
Axel Enninger: Heute spreche ich mit:
Dr. Martin Claßen
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein heutiger Gast ist Dr. Martin Claßen. Er ist Kinder- und Jugendarzt. Er ist Kinder-Gastroenterologe. Er war langjährig Chefarzt in der Kinderklinik in Bremen. Und er ist der Herausgeber der Zeitschrift „Pädiatrie“ und des „Klinikleitfadens Pädiatrie“ und ein ganz umtriebiger Verfasser von vielen Artikeln, Vorträgen und außerdem mein langjähriger Freund. Deswegen freue ich mich ganz besonders, Martin, dass du heute hier zu Gast bist.
Martin Claßen: Lieber Axel, vielen Dank für die Einladung. Ich finde, wir haben uns heute ja ein ganz spannendes Thema ausgesucht, über das wir sicherlich auch noch lange sprechen könnten.
Axel Enninger: Genau. Also wir reden heute über das Mikrobiom des Darms. Dazu kann man vorweg sagen, dass wir Kinder-Gastroenterologen sind und uns beide mit dem Thema beschäftigen. Aber wir sind natürlich keine Grundlagenforscher, wir sind keine Labormenschen, und die Zuhörerinnen und Zuhörer werden es mir verzeihen, dass ich mich vielleicht diesmal mehr einmische, als ich mich sonst bei Themen einmische, weil ich mich auch schon ein wenig mit diesem Thema beschäftigt habe. Aber lass uns mal generell starten. Wenn man den Fernseher anschaltet und die Tagesschau angucken will und man eine Minute zu früh da war, wird man üblicherweise mit Werbung für einen Probiotikum „belästigt“, sage ich fast mal. Da geht es um Immungesundheit. Es geht generell um Wohlfühlen. Da heißt das Thema „Mikrobiom“ und wie kann ich das Mikrobiom beeinflussen? Es ist tatsächlich in aller Munde und auch in der Laienpresse unglaublich präsent. Wir versuchen heute mal so ein bisschen aufzudröseln, was wir denn wissen, was wir denn vielleicht auch noch nicht wissen. Aber bevor wir starten, müssen wir erst einmal ein paar Begrifflichkeiten klären. Also Thema „Darmflora“. Sagt man das noch? Sagt man „Mikrobiom“? Was ist „Metabolom“? Vielleicht mal so ein paar Begriffe. Sagt man „Darmflora“ noch?
„Mikrobiota“ oder „Mikrobiom“: Bakterien, Viren und Pilze
Martin Claßen: Nein, „Darmflora“ ist out. Also, das können wir schon mal vergessen, weil es eben keine Pflanzen sind, die da wachsen, sondern die Gesamtheit der mikrobiellen Bestandteile – dazu gehören übrigens auch Viren, dazu gehören auch Pilze – und die Gesamtheit ist dann eben das Mikrobiom bzw. die Gene dieser Dinge, denn die untersucht man ja am Ende in den Stuhlproben. Und die Mikrobiota sind eben die einzelnen Bewohner des Darms, die mikrobiellen Bewohner. Das „Metabolom“, das ist auch noch mal ein spannendes Thema, das werden wir gleich sicherlich, wenn wir über die Darm–Hirnachse sprechen, auch besprechen. Die Interaktion zwischen den Mikrobiota und dem Immunsystem und den Mikrobiota und dem zentralen Nervensystem passiert eben auf verschiedenen Wegen. Und ein Weg ist, dass diese Bakterien und Pilze auch Metabolite freisetzen, die über den Blutweg zum Beispiel ins Gehirn gelangen. Das ist ein wesentlicher Faktor, der jetzt immer mehr verstanden wird und deswegen müssen wir das alles angucken. Also wir sprechen wahrscheinlich jetzt weiter vom „Mikrobiom“ oder den „Mikrobiota“.
Axel Enninger: Okay, aber wichtig, dieses Thema „Metabolom“ ist in der Tat ja spannend, denn, wie du sagst, wer in unserem Darm „wohnt“ ist eines, aber was der macht, ist natürlich das andere. Früher war es tatsächlich so, „Mikrobiom“ bedeutete, wir redeten über Bakterien. Jetzt hat man in den letzten Jahren gelernt, dass eben auch Pilze und Viren eine entscheidende Rolle spielen. Über wie viele Zellen, „Mitbewohner“, reden wir denn eigentlich?
Martin Claßen: Da gibt es verschiedene Versuche, das zu zählen. Das sind Abermilliarden, mehrere Billionen, die da wohnen und viele kennen wir noch gar nicht. Man muss auch noch mal erzählen, dass dieser Hype, der in den letzten Jahren entsteht, einfach dadurch gekommen ist, dass wir mehr Möglichkeiten haben, es zu untersuchen. Denn die Kultur, die vor 20 Jahren vielleicht gemacht wurde, erfasst ja nur einen kleinen Teil der Bakterien, die im Darm wohnen. Die ganzen Anaerobier gehen unter Kulturbedingungen ein. Jetzt untersucht man die DNA dieser Mikrobiota und dazu braucht man vernünftige Möglichkeiten, diese DNA zu sequenzieren und man braucht Computer, die uns diese Masse an Daten, die entstehen, auch aufbereiten. Das erklärt, warum die Forschung in den letzten Jahren exponentiell mehr Daten geliefert hat. Im letzten Jahr waren, glaube ich, über 6.000 Publikationen in MEDLINE zu finden zu diesem Thema. Da kann auch niemand einen Überblick über alles haben.
Sectio und Nicht-stillen führt zu anderem Mikrobiom
Axel Enninger: Obwohl das Thema ja eigentlich ein altes Thema ist. Wenn man zurückguckt, am Anfang des 20. Jahrhunderts, war es auch schon einmal, vor allem in Osteuropa, ein sehr, sehr großer Hype. Und es ist ja auch heute noch so, dass bestimmte traditionelle Dinge jetzt quasi „wiederkommen“: das Thema „Joghurt“, das Thema „Kefir“, das Thema „fermentierte Lebensmittel“, das sind ja alles keine brandneuen Themen, sondern eigentlich Themen, die jetzt durch dieses Mikrobiomthema noch mal wieder nach vorne kommen. Wir hatten uns im Vorfeld ein bisschen überlegt, wie können wir uns denn dem Thema nähern und haben gedacht, wir nehmen einfach mal ein paar Fragen aus dem wahren Leben und können anhand dieser Fragen sagen: Welche Daten haben wir, welche Daten haben wir nicht? Starten wir einfach einmal mit einem ganz klassischen Thema. Da gibt es eine sehr gut informierte, werdende Mutter, die sich vorher überlegt hat, bevor das Kind auf die Welt kommt, sie möchte gerne ihr Kind auf natürliche Art und Weise auf die Welt bekommen und möchte das Kind danach stillen. Nun kommt es anders als man denkt. Das Kind wird doch nicht spontan geboren, sondern das Kind wird per Sectio geboren und es gibt eine Reihe von Stillhindernissen, sodass dieses Kind nicht gestillt werden kann. Also zwei, sag ich mal, „Risikofaktoren“, wie das Neugeborene möglicherweise nicht an das Mikrobiom kommt, was man sich eigentlich wünschen würde. Wie gehen wir damit um?
Martin Claßen: Zunächst mal hat die Mutter sich gut informiert, denn es gibt schon Daten dazu, dass eine Sectio-Geburt eben zu einem anderen Darmmikrobiom führt als eine vaginale Geburt. Eine Sectio-Geburt ist mit einem erhöhten Risiko für verschiedene Erkrankungen verbunden, zum Beispiel Asthma, Morbus Crohn und solche Dinge, sodass diese Angst ja nicht ganz ohne Grund besteht.
Axel Enninger: Und der Link ist das Mikrobiom?
Martin Claßen: Wahrscheinlich. Also, dafür gibt es Daten. Deswegen gibt es ja auch Mütter, die nach Sectio-Geburten die Geburtshelfer darum bitten, vaginales Sekret dem Kind oral zuzuführen. Das ist erst einmal ganz plausibel, aber nach allem, was wir bisher wissen, gibt es nicht ausreichend Evidenz, um das wirklich zu empfehlen. Also dieses vaginal seeding hört sich gut an, aber ich denke, da muss man noch mehr Forschung machen.
Axel Enninger: Wenn man näher hinschaut, stellt man ja fest, dass es eigentlich gar nicht die Bakterien aus der Scheide, sondern eher die aus dem Anus sind, sodass man dann sagen muss, da wird diese Methode dann schon, sage ich mal, besonders und vielleicht ein bisschen zweifelhaft. Aber grundsätzlich Sectio – wobei man sicher hingucken: primäre oder sekundäre Sectio, aber das ist auch in den Studien nicht immer unterschieden – aber ja, Sectio-Entbindung ist ein Risikofaktor. Und jetzt Stillen?
Martin Claßen: Ja, Stillen wäre natürlich gut, auf jeden Fall, weil dann natürlich auch mit der Muttermilch sowohl probiotische Bakterien übertragen werden als auch Präbiotika. Das ist noch mal ein anderer Begriff. Präbiotika sind eben vor allem Oligosaccharide, die von den Bakterien im Darm besonders verstoffwechselt werden und die dann besonders gut wachsen. Wir wissen eben, bei Muttermilch ist es die Laktose und auf der anderen Seite die humanen Milch-Oligosaccharide, die zu dieser Bifidus-Flora führen, die wir kennen. Jetzt habe ich „Flora“ gesagt [schmunzeln], also zum Bifidus-dominanten Mikrobiom, und die eben wahrscheinlich ein besonders gesundes Mikrobiom für Säuglinge darstellt.
Axel Enninger: Stopp, kurze Unterbrechung. Du hast gesagt, „die Bakterien in der Muttermilch“. Wir haben ja lange gedacht, Muttermilch sei steril. Stimmt das gar nicht?
Martin Claßen: Nein. Muttermilch ist ein mit probiotischen Bakterien durchsetztes Nahrungsmittel. Und gleichzeitig mit Präbiotika sind ja noch viele andere Dinge mit drin. Insofern ist die Muttermilch super. Natürlich versuchen die Hersteller von Milchnahrung dem auch nachzueifern, setzen Probiotika in die Milchnahrung, setzen Präbiotika in die Milchnahrung, lassen sie fermentieren, so dass dieser Mutter schon ein bisschen die Angst nehmen kann. Also mit einer guten Milch von namhaften Herstellern wird man wahrscheinlich schon vieles richtig machen. Und es gibt eine Studie, die so ein bisschen dem Ganzen den Druck nimmt: Am Ende von sechs Monaten und auch mit zwölf Monaten gleicht sich das Mikrobiom der Sectio-Kinder dem der normal entbundenen Kinder an. Wahrscheinlich spielt dann mehr auch die Umgebung eine Rolle. Wir wissen, dass die Ernährung der Mutter, wo man lebt, ob man in der Stadt lebt oder auf dem Lande und andere Faktoren das Mikrobiom des Kindes viel mehr prägen, auch im Weiteren.
Axel Enninger: Was diese sechs Monate machen, wissen wir nicht so genau, weil es ja so ein „Delta“ gibt dazwischen.
Martin Claßen: Aber ich glaube, eine gute Milchnahrung zu nehmen, wenn nicht gestillt werden kann, ist sinnvoll. Und das andere? Man kann natürlich auch Probiotika zuführen. Damit macht man auch nichts falsch. Wenn diese Mutter dann besser schlafen kann, würde ich dem durchaus zustimmen. Dann würde man Laktobazillen oder Bifidobakterien nehmen.
Axel Enninger: Das kann man machen, aber man ist umgekehrt auch sozusagen keine schlechte Mutter und keine schlechte Familie, wenn man es nicht tut, oder?
Martin Claßen: Genau.
Axel Enninger: Das sollten wir schon noch festhalten. Okay, aber schauen, dass man eine qualitativ hochwertige Säuglingsmilchnahrung nimmt, wenn Stillen nicht geht. Und wie gesagt, der Ansatz Probiotika, Präbiotika oder beides, Synbiotika, oder aber, das hast du vorhin erwähnt, Fermentation und durch Fermentation entstehen sogenannte Postbiotika. Das sind Ansätze, die von verschiedenen Firmen unterschiedlich intensiv verfolgt werden. Und da werden wir uns jetzt heute nicht positionieren.
Antibiotika im ersten Lebensjahr nach Möglichkeit vermeiden
Martin Claßen: Und vielleicht noch ein Faktor: Antibiotikatherapien im ersten Lebensjahr vermeiden. Das ist auch noch ein wichtiger Faktor. Das wissen wir mittlerweile, dass frühe antibiotische Therapien das Risiko für bestimmte Erkrankungen, zum Beispiel Morbus Crohn, steigern. Deswegen müssen wir Pädiater uns immer wieder selber auch disziplinieren und sagen: Muss ich denn jetzt wirklich antibiotisch behandeln? Kann ich das nicht doch erst mal beobachten und vielleicht das Antibiotikum vermeiden? Also die ersten zwölf Monate sind, was antibiotische Therapie angeht, und das Darmmikrobiom, das darunter leidet, wahrscheinlich schon auch für lange Zeit wichtig.
Bei Säuglingskoliken sind Probiotika einen Versuch wert
Axel Enninger: Okay, kleiner Querverweis zu unserer Folge Antibiotic Stewardship, was da natürlich eine ganz, ganz große Rolle spielt. Also gut, das haben wir jetzt. Sectio und Nicht-Stillen war ein Szenario. Zweites Szenario: Da gibt es ein neugeborenes Baby oder ein Baby, das vier, fünf Wochen alt ist, und das leidet intensiv unter Koliken. Da ist manchmal die Hilflosigkeit groß, die Verzweiflung groß und der Wunsch nach einer Therapie ebenso groß. Wie sind denn da die Daten?
Martin Claßen: Auch darüber könnte man natürlich, weil es ein komplexes Problem ist, jetzt auch noch eine Stunde reden. Wenn man es jetzt auf die Frage Milchnahrung und Probiotika reduziert, dann gibt es zumindest Daten über den Einsatz von Lactobacillus reuteri, die die Koliken verbessern und in einigen wenigen Fällen eine kuhmilchproteinfreie Nahrung, wenn das Kind eben nicht gestillt wird, die einen Einfluss haben kann. Aber wie das genau funktioniert, weiß man eigentlich nicht so richtig.
Axel Enninger: Das heißt, auch da würde man sagen, ja, es ist durchaus einen Versuch wert. Aber grundsätzlich spielt bei Koliken die Zeit für einen. Wenn man denkt, man muss intervenieren, ist Punkt 1: Überlegen, kann es eine Kuhmilchallergie sein, eine nicht-IgE- vermittelte? Dann würde man dem Kind komplett die Kuhmilch-Exposition klauen. Entweder dadurch, dass die Mutter sich entsprechend ernährt oder aber dass man das Kind entsprechend ernährt. Oder aber – wenn, dann aber bitte Probiotikum nur, für das es auch Studien gibt – und vielleicht, das können wir jetzt auch schon mal sagen, Probiotikum ist nicht gleich Probiotikum. Der Markt ist extrem vielfältig und für bestimmte Indikationen gibt es bestimmte Studien. Da ist wichtig, dass man da genau hinguckt und nicht denkt, na ja, es ist alles gleich, es wird schon irgendwie gut sein.
Martin Claßen: Ja, völlig richtig.
Reizdarm und funktionelle Bauchschmerzen
Axel Enninger: Dann zu einem Thema, das uns Kinder-Gastroenterologen und auch alle niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte häufig beschäftigt: das Thema „funktionelle Bauchschmerzen / Reizdarmsyndrom“. Nur eine kleine Einführung: Der Unterschied zwischen funktionellen Bauchschmerzen und Reizdarmsyndrom ist, dass beim Reizdarmsyndrom die Bauchschmerzen immer assoziiert sind mit Stuhlentleerung bzw. einer Veränderung der Stuhlkonsistenz. Das kann entweder zu fest oder zu hart sein, das ist die Unterscheidung.
Martin Claßen: Zu fest oder zu weich.
Axel Enninger: Entschuldigung. Danke für den Hinweis, zu fest oder zu weich. Also das ist der Reizdarm und das andere wären funktionelle Bauchschmerzen. Auch da ist die Frage, kann ich denn da etwas tun, was das Mikrobiom positiv und damit auch meine Beschwerden positiv beeinflusst?
Martin Claßen: Also, die Daten beim Reizdarm sind, was Mikrobiom und Reizdarm angeht, schon relativ weiter fortgeschritten. Man weiß, dass Menschen mit Reizdarm eine andere Mikrobiomsignatur, so heißt die Zusammensetzung des Mikrobioms, haben. Diese scheint auch über verschiedene Wege mit dem Gehirn zu kommunizieren. Das hatte ich eben schon erwähnt. Also auf der einen Seite produzieren die Mikrobiota des Darms bestimmte Botenstoffe, die ins Gehirn kommen, Serotoninvorstufen, γ-Aminobuttersäure. Vor allem die kurzkettigen Fettsäuren scheinen eine Rolle zu spielen, also Buttersäure zum Beispiel. Umgekehrt führt eben, das wissen ja viele Betroffene, die einen Reizdarm haben, führt Stress auch zu Veränderungen der Mikrobiota. Also die Cortisol-Achse führt dazu, dass sich die Mikrobiota des Darms in der Zusammensetzung verändern, und so kann es einen Kreislauf geben.
Axel Enninger: Also das heißt, wir haben ein bisschen ein Henne-und-Ei-Problem.
Martin Claßen: Genau. Genau, das haben wir ja grundsätzlich bei all diesen Dingen, aber beim Reizdarm haben wir in der Leitlinie, wo wir beide ja auch beteiligt waren, zumindest die Studien zu den Probiotika als ganz gut eingeschätzt. Und das ist eine der Empfehlungen, die in der Leitlinie steht, dass man bei Patienten, vor allem mit einem Diarrhoe-dominanten Reizdarmsyndrom, einen Versuch mit Probiotika machen kann. Ich mache das auch regelmäßig ganz gerne. Man hat ja das Gefühl, dass die Patienten auch etwas wollen, etwas einnehmen wollen. Auf der anderen Seite ist, glaube ich, die Beratung und dieses Benennen des Reizdarms als Krankheit mitentscheidend. Unsere ärztliche Rolle sollten wir da nicht unterschätzen. Aber Probiotika können hilfreich sein.
Axel Enninger: Genau. Aber ich glaube auch, das muss einhergehen mit einer Beratung über dieses Thema Darm–Hirn-Achse, Hirn–Darm-Achse.
Martin Claßen: Ja.
Axel Enninger: Das muss man, glaube ich, erläutern. Und dann, möglicherweise in der Kombination, ist es einen Versuch wert. Auch da: Man kann es tun, man muss es nicht tun.
Wann Probiotika nach Antibiotikatherapie?
Axel Enninger: Etwas, das immer wieder in der Werbung zu lesen ist und das man auch häufig hört und wo ich immer denke, da gibt es ein gewisses „Delta“ zu unseren klinischen Alltag, ist das Thema der postantibiotischen Diarrhoe. Es wird immer wieder gesagt: ‚Na ja, wir haben Antibiotika gegeben.‘ Häufig fragen Eltern ja auch: ‚Können wir denn etwas zum Schutz oder zum Aufbau der „Darmflora“ geben?‘ Wie sind denn da die Daten? Also, a) was machen Antibiotika am Mikrobiom und b) müssen wir intervenieren?
Martin Claßen: Also, wahrscheinlich ist es in den allermeisten Fällen so, dass das Mikrobiom des Menschen, der dieses Antibiotikum genommen hat, sich relativ schnell wieder normalisiert. Das ist ja etwas, das uns wahrscheinlich doch lange, lange Zeit auch treu ist, unser Darmmikrobiom. Das heißt, die Chance besteht auch ohne Gabe von Probiotika, eine rasche Normalisierung zu haben. Ein bisschen Durchfall ist ja auch nicht unbedingt schädlich, wenn es nicht gerade ein Kleinkind ist, das viel Flüssigkeit verliert. Ich glaube, dieses Gefühl, ein Kind muss immer einen festen, normalen geformten Stuhlgang haben, ist natürlich auch kein Gesundheitszustand per se. Deswegen würde ich erst einmal beruhigen. Wenn man wirklich denkt, es dauert länger als ein, zwei Wochen, dann würde ich schon einen Versuch mit einer probiotischen Therapie machen. Aber nicht jedes Kind, das Antibiotika bekommt, braucht Probiotika.
Axel Enninger: Aber hast du das Gefühl, es ist ein relevantes Thema?
Martin Claßen: Eigentlich nicht. Selten.
Axel Enninger: Eigentlich nicht so. Finde ich auch.
Martin Claßen: Vielleicht kommen sie nicht mehr zu uns als Patienten.
Axel Enninger: Ja, okay, aber da habe ich auch den Eindruck, da ist das, was sozusagen suggeriert wird an Schäden an unserem Mikrobiom durch die Antibiotika, da gibt es ein gewisses Delta zum klinischen Befinden. Es ist sicher etwas anderes, wenn ich jemanden über viele Wochen antibiotisch behandeln muss, weil ich irgendwelche Knochenentzündungen habe, die manchmal lange und breit behandelt werden müssen, dann kann man sicher darüber nachdenken. Aber, ich sage mal, die fünftägige antibiotische Behandlung bei einer Bronchitis ist normalerweise kein Riesenthema.
Autismus, ADHS und das Mikrobiom
Axel Enninger: Dann ein Thema, wo es so ein bisschen wackelig wird, wo wir aber auch als Kinder-Gastroenterologen relativ häufig gefragt werden, ist das Thema Verhaltensauffälligkeiten. Haben Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung ein anderes Mikrobiom? Kann man vielleicht dort etwas tun? Und auch da ein Querverweis auf eine andere Podcastfolge: Haben Kinder mit einem ADHS vielleicht ein anderes Mikrobiom und kann man da durch Interventionen irgendetwas tun?
Martin Claßen: Das Thema ist insofern schwierig, weil wir natürlich meistens Assoziationsstudien haben. Da werden 100 Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung mit 100 Gesunden verglichen und man findet, dass das Mikrobiom bei diesen ASS-Kindern anders ist. Das beweist natürlich überhaupt keine Kausalität. Wir wissen, dass Autismus-Spektrum-Störung-Kinder häufiger gastrointestinale Probleme haben: Durchfall, Unverträglichkeiten gegen bestimmte Nahrungsmittel. Aber sie essen manchmal auch nicht alles. Auch das ist ein Thema und sie haben manchmal eine schnellere Darmpassage, was auch wiederum Einfluss auf das Mikrobiom hat. Also letztlich muss man schon Interventionsstudien machen, um wirklich eine Kausalität zu beweisen. Interventionsstudien wären fäkaler Mikrobiomtransfer, müssen wir vielleicht gleich noch mal erläutern, probiotische Therapie oder vielleicht auch antibiotische Therapie, wenn das Einfluss auf das Verhalten der Kinder hat. Da gibt es einige wenige Studien, die aber meines Erachtens noch nicht ausreichen, um zu sagen, es muss jedes Kind mit Autismus-Spektrum-Störung entsprechend behandelt werden. Zumal ja, wie der Name schon sagt, es auch ein breites Spektrum verschiedener Ursachen ist, es ist wahrscheinlich ein Sammeltopf verschiedener Krankheiten. Auch das müsste man wahrscheinlich noch einmal gut differenzieren. Daran wird eigentlich gut deutlich, was wir für Probleme haben. Also es ist einfach eine Assoziation, eine Beobachtung, die gleichzeitig auftritt? Oder ist es etwas, das kausal miteinander zusammenhängt und das, was du eben Henne-Ei-Frage genannt hast? Das ist genau richtig. Letztlich wissen wir es nicht ganz genau. Trotzdem. Es wird weiter geforscht, es werden erste Studien zu fäkalem Mikrobiomtransfer gemacht.
Axel Enninger: Stichwort Stuhltransplantationen, um es mal kurz zu sagen.
Martin Claßen: Ja. Also, dass man Stuhlsuspension von Gesunden entweder verkapselt oral zuführt oder rektal zuführt. Das ist etwas, das bei vielen dieser Mikrobiom-assoziierten Erkrankungen ja zumindest versucht werden kann. Es gibt auch Studien, vielleicht kann man das an dieser Stelle noch einmal erzählen. Wenn man keimfreie Mäuse hat, dann kann man ihnen beliebiges Mikrobiom „eintrichtern“, hätte ich jetzt einfach gesagt. Man weiß zum Beispiel, dass keimfreie Mäuse, die das Mikrobiom eines adipösen Menschen eingepflanzt bekommen, dann auch dazu neigen, adipös zu werden. Es gibt Daten dazu, dass das Darmmikrobiom von depressiven Menschen auch Verhaltensänderungen bei keimfreien Mäusen macht. Das heißt, das spricht schon dafür, dass da ein kausaler Zusammenhang ist, wobei man natürlich die Depression der Mäuse vielleicht nicht so gut erkennen kann.
Axel Enninger: Na ja, da gibt es noch andere spannende Geschichten. Da gibt es eine neue Studie mit Probiotika, wo man geguckt habe, ob Mäuse sozusagen „mutiger“ werden. Auch das spannend! Aber das führt jetzt vielleicht ein bisschen zu weit. Ich glaube, Fazit, können wir bei diesem Thema Autismus-Spektrum-Störung sagen: Da sind wir weit davon entfernt, dass man durch eine Intervention außerhalb von Studien irgendwelche Empfehlungen abgeben würden, oder?
Martin Claßen: Genau. Aber wir werden das sicherlich weiter aufmerksam beobachten müssen und sollten das beobachten, weil es total spannend ist. Und auch wenn sie es nicht bestätigen würde, wäre es wichtig, das zu klären.
Mikrobiom „durcheinander“ und bunte Balken
Axel Enninger: Okay. Jetzt ein Thema, das uns beiden sehr am Herzen liegt, weil wir häufig damit konfrontiert werden, nämlich mit dem Thema: Die Kinder werden in der Kinder-Gastroenterologie vorgestellt und die Frage ist die: ‚Das Mikrobiom meines Kindes ist durcheinander. Es sind von den guten Bakterien zu wenig und von den bösen zu viel. Tun Sie was!‘ Das ist eine Frage, die wir häufig gestellt bekommen. Sie basiert auf Stuhlanalysen und das ist ein Thema, was uns beide oft, na, sage ich mal „nervt“.
Martin Claßen: Ja deswegen nervt, weil man das Gefühl hat, dass die Labors, die diese Diagnostik anbieten, eigentlich nicht mit klaren Aussagen rüberkommen dürften bzw. auch ihre Leistung anbieten, obwohl das nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht. Also Hintergrund ist: Diese „Stuhlflora-Analysen“, so hießen sie ja früher, kultivieren die Bakterien. Und ich hatte ja eben schon gesagt, 90 % der Darmbakterien sind Anaerobier, das heißt, schon auf dem Weg von der Toilette in das Röhrchen und vom Röhrchen ins Labor sterben sie ab und 10 % lassen sich kultivieren. Je nachdem, wie lang der Transport ist, kann sich die Zusammensetzung dann auch noch einmal verändern. Das heißt, das, was da im Labor gemessen ist, ist meines Erachtens irgendein fiktives Konstrukt.
Axel Enninger: Okay, Stichwort „Standardisierung der präanalytischen Phase“, würde man das nennen. Das ist null standardisiert. Schon mal das erste große Problem.
Martin Claßen: Es sieht natürlich toll aus, wenn das irgendwie in bunten Säulen ausgedruckt ist, aber es ist überhaupt keine wissenschaftliche Evidenz dahinter. Es kann manchmal zeigen, dass vielleicht im Darm des Kindes, etwas nicht in Ordnung ist. Aber auch wenn ein Darm krank ist, ist natürlich das Mikrobiom durcheinander. Auch das könnte man daraus natürlich schließen. Die wissenschaftlichen Analysen sind alle DNA-Analysen oder 16S-RNA-Analysen bzw. auch andere, Shotgun Metagenomics heißt das, also relativ diffizile Geschichten, die bisher nicht kommerziell und in breitem Umfang angeboten werden. Es wird in Forschungseinrichtungen gemacht. Also das, was im Moment kommerziell angeboten ist, ist meines Wissens nicht dazu geeignet, daraus eine Diagnose zu stellen oder eine Therapie bei einem Kind mit Bauchschmerzen abzuleiten.
Axel Enninger: Und auch die Ergebnisse von den Untersuchungen mit den neueren Methoden sind noch nicht allseits verfügbar. Auch da sind wir noch viel zu früh, als dass wir daraus Schlüsse ziehen könnten. Man kann sagen okay, wir haben bestimmte Hinweise, wir haben vielleicht irgendwelche Cluster, wir haben Muster, die man erkennen kann, aber da sind wir noch viel zu früh, als dass wir im Jahr 2023 da irgendeine vernünftige Empfehlung daraus ableiten könnten.
Martin Claßen: Genau, weil es auch kein normales Mikrobiom gibt, sondern es gibt ein individuelles Mikrobiom. Das ist abhängig vom Lebensalter, vom Körpergewicht, vom Geschlecht, von der Gegend, wo man lebt. Wir wissen gar nicht, wie das Mikrobiom irgendwo in Afrika oder in Südamerika am Amazonas ist, also insofern: Es gibt erste Daten, die sagen, die Diversität des Mikrobioms spielt eine Rolle, die wiederum von der Geschwindigkeit der Passage abhängig ist. Es gibt so viele Einflussfaktoren, dass ich mich, obwohl ich mich damit jetzt doch länger beschäftigt habe, nicht trauen würde, irgendetwas daraus abzuleiten.
Axel Enninger: Okay, das können wir als kleines Zwischenfazit vielleicht machen und sagen: Ja, es ist extrem spannend und wirklich sehr, sehr wichtig, dass wir uns mit dem Thema „Rolle des Mikrobioms“ beschäftigen. Aber die momentan verfügbare Diagnostik zum Stand 2023 ist sinnfrei und deswegen sollte man sie nicht machen. Aber, du hast vorhin schon darauf hingewiesen, was natürlich eine durchaus wichtige Rolle spielt, ist die Art und Weise, wie wir uns ernähren, nämlich was wir den Bakterien, Viren in unserem Darm zu futtern geben. Darüber müssen wir jetzt mal ein bisserl reden.
Gesunde Nahrung für den Darm ist nicht ultraprozessiert
Martin Claßen: Genau. Es ist klar, dass bestimmte Bakterienspezies besondere Inhaltsstoffe der Nahrung besser verarbeiten können. Das sind zum Beispiel unter Laktose gut gedeihenden Bakterien oder unter diesen humanen Milcholigosacchariden gut gedeihenden Bakterien. Das sind andere als dann, wenn wir mit Beikost anfangen bei den Babys. Da sind eben Oligosaccharide drin, die nicht gespalten und resorbiert werden, die natürlich auch Futter für die Bakterien des Darms darstellen. Also das, was ja die Menschen schon immer wissen, dass bestimmte Gemüsesorten, Bohnen oder Erbsen oder so, eben zu mehr Blähungen führen. Das ist genau wegen dieser Oligosaccharide, die vom Dünndarm nicht aufgenommen werden. Dann gibt es mehr Gasbildung, also das heißt, das hat sicherlich Einfluss. Lösliche Ballaststoffe haben Einfluss aufs Mikrobiom, so dass man sagen kann, das, was wir als Gastroenterologen immer propagieren: mediterrane Mischkost mit viel pflanzlichen Nahrungsmitteln, möglichst wenig tierische Nahrungsmittel, möglichst wenig raffinierte Nahrung, vor allem raffinierte Zucker vermeiden und natürlich industriell gefertigte Nahrung, also ultraprocessed food vermeiden. Das führt dazu, dass das Mikrobiom vielfältig ist und wahrscheinlich günstig für den Menschen, sowohl den Darm, die Darmschleimhaut – die Barriere – als auch wahrscheinlich für das Zentralnervensystem.
Axel Enninger: Zu diesem Thema Stichwort ultraprocessed food müssen wir, glaube ich, noch mal ein bisserl was sagen. Das ist ja ein Thema, das in den letzten Jahren doch ziemlich breit und immer weiter auch diskutiert wird. Da reden wir über Nahrungsmittel, aber auch Getränke, Süßigkeiten, die eben sehr unterschiedlich zusammengesetzt werden und die zum Teil Zusatzstoffe enthalten, die ein Problem darstellen könnten. Kannst du da ein bisschen erläutern, was wir damit meinen oder welche Inhaltsstoffe uns da besonders Bauchweh bereiten?
Martin Claßen: Also wahrscheinlich spielen eine Rolle: die Emulgatoren, die Stabilisatoren. Man weiß, dass Emulgatoren auch die Darmbarriere angreifen können und Titandioxid wird angeschuldigt. Es gibt viele, viele verschiedene, ich kennen sie jetzt auch nicht alle. Man weiß, dass wenn Menschen mehr als fünf Portionen prozessierte Nahrung, industriell gefertigte Nahrung pro Tag zu sich nehmen, sie über lange Zeit ein erhöhtes Risiko haben, zum Beispiel Morbus Crohn zu bekommen. Das wissen wir. Ich habe jetzt auch noch andere Daten gefunden, auch dass die Nahrung auf das Gemüt Einfluss hat. Schokolade ist übrigens gut, obwohl es ein ultraprozessiertes Nahrungsmittel ist, wahrscheinlich fürs Gemüt. Also das heißt, wir als Gastroenterologen, als Kinderärzte, müssen wir sagen, wir müssen unsere Kinder versuchen zu erziehen, möglichst viel frisch zubereitete Nahrung zu geben und möglichst wenig aus irgendwelchen Tüten, Flaschen, Dosen zu geben.
Axel Enninger: Genau, wobei die Kinder da in aller Regel Opfer der Eltern sind. Also insofern müssen wir da sicher auch an die Eltern ran und sagen: ‚Hier: Auf den Markt gehen! Einkaufen und selber kochen ist die Devise!‘ Und wir müssen dann aus meiner Sicht schon auch auf die Industrie zugehen und sagen: ‚Hier, ihr habt das Know-how dazu und wir wollen, dass bestimmte Dinge möglichst nicht mehr in euren Produkten drin sind!‘ Und das, was du vorhin zu den Emulgatoren gesagt hast, auch ja noch mal ganz spannend, weil das ein Hinweis ist: Da weiß man, dass manche Emulgatoren an eben diese Mucinschicht drangehen. Das zeigt noch einmal, wenn diese Mucinschicht dünner wird, dann sind wahrscheinlich die Effekte der Stoffwechselprodukte der Bakterien ganz andere. Wenn meine Schutzschicht dünner ist, ist es natürlich ein Wahnsinnsunterschied, welche Bakterien da sind. Das zeigt aber auch im Nachhinein noch einmal, wie sinnfrei es ist, einfach Bakterienspezies zu zählen und daraus irgendwelche Schlüsse ziehen zu wollen.
Vorsicht mit Diäten
Martin Claßen: Und eine Sache würde ich gerne noch ergänzen: Auch unnötige Diäten führen zu einer Veränderung des Mikrobioms. Auch das gibt es ja, gerade bei Kindern mit chronischen gastrointestinalen Beschwerden. Da werden irgendwelche Diäten gemacht, ohne dass es dafür eine richtige Evidenz gibt oder die Befunde dafür sprechen. Es wird einfach weitergemacht. Auch die haben möglicherweise einen negativen Einfluss aufs Mikrobiom. Also Diäten nur dann machen, wenn es wirklich eindeutig notwendig ist.
Axel Enninger: Okay, und das können wir beide auch noch mal sagen: Was wir dabei auf keinen Fall wollen, ist eine IgG4-Diagnostik bezüglich vermeintlicher Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die Konsequenzen daraus sind zum Teil verheerend. Die Kinder kriegen irgendwelche Ausschlussdiäten, Mikronährstoffmängel, verlernen jeglichen Spaß am Essen. Also das eine hatten wir vorhin schon gesagt: Stuhlanalysen helfen nicht weiter. Und das Zweite: IgG4-basierte Diätempfehlungen sind ebenso sinnfrei und sind für das Mikrobiom häufig auch noch eher schädlich. Ich glaube, das wollen wir als Statement auch noch unbedingt loswerden, oder?
Martin Claßen: Ja, genau.
Formula-Nahrung
Axel Enninger: Jetzt haben wir aber manchmal in der Medizin die Situation, dass wir unseren Patienten sehr verarbeitete Spezialprodukte anbieten. Ich sage jetzt mal Stichwort „Kuhmilchallergie“. Aminosäure-basierte Formula ist ja kein Naturprodukt. Oder das Thema Ernährungstherapie bei Morbus Crohn. Da geben wir bestimmte verarbeitete Formula-Nahrungen, und die setzen wir ein aus gutem Grund. Was hat denn das für Auswirkungen aufs Mikrobiom?
Martin Claßen: Das verändert das Mikrobiom. Aber das erste Ziel ist ja, dass es dem Patienten besser geht. Also bei Morbus Crohn sehen wir ja, die Entzündung geht zurück. Den Kindern und Jugendlichen geht es besser. Da würde mich dieses Mikrobiom zwar interessieren, aber würde mich nicht davon abhalten, so eine enterale Ernährungstherapie anzusetzen.
Axel Enninger: Also, da haben wir ein Delta, da setzen wir Dinge an, die ultraprozessiert sind, die Emulgatoren enthalten. Die sind ärztlich verordnet, das muss man schon sagen, da haben wir einen gewissen Widerspruch.
Martin Claßen: Genau. Aber das zeigt noch mal, dass zwischen dem, was klinisch wirksam ist und was im Darm an Mikrobiomveränderungen passiert, manchmal keine direkte Korrelation ist, keine kausale Beziehung. Das müssen wir auch lernen oder wir müssen versuchen die Bindeglieder irgendwann zu identifizieren.
Axel Enninger: Das heißt, da ist ganz klar, ja, wir wissen, dass wir möglicherweise nicht das Beste für das Mikrobiom tun, aber wir haben gute Studien dafür und gute Evidenz dafür, dass diese Intervention in diesem Fall sinnvoll ist. Stichwort „Kuhmilchallergie“, Stichwort „Ernährungstherapie Morbus Crohn“.
Martin Claßen: Genau. Und danach beraten wir dann ja über Wiedereinführung von Nahrung und beraten über mediterrane Mischkost und pflanzenbasierte Nahrung. Bei den Aminosäurenahrungen kann man natürlich sagen, wenn das Kind keinen kranken Darm hat, dann kann man auch eine Aminosäurenahrung mit Laktose anrühren. Das gibt es ja auch kommerziell mittlerweile. Dann kann wenigstens die präbiotische Komponente der Nahrung noch eine Rolle spielen. Auch das ist komplex. Die Nahrung besteht ja aus vielen verschiedenen Komponenten und das hat alles Einfluss aufs Mikrobiom.
Mikrobiomtransfer? „Poop in a pill“ als Zukunftsmusik
Axel Enninger: Im Zeitalter von „Ich kann mir alles kaufen, und ich kann mir alles leisten“ stelle ich fest, ich habe einen Reizdarm. Ich leide wirklich unter diesem Reizdarm. Ich muss 20x am Tag auf die Toilette rennen in zum Teil einfach völlig ungeeigneten Situationen. Ich bin ein reicher Mensch und ich reise jetzt irgendwo hin und lasse mir das Mikrobiom eines gesunden Menschen transferieren, heißt, ich mache eine Stuhltransplantation. Fakt oder Fiktion?
Martin Claßen: Wow, das finde ich jetzt schon ziemlich abgefahren. Also Stuhltransplantation könnte funktionieren, aber die Frage ist, wer ist der ideale Spender oder die ideale Spenderin? Welche Eigenschaften müssen erfüllt sein, auch wenn jetzt jemand nicht adipös ist? Dann darf er auch keine Depression haben und man muss natürlich auch einen Schutz vor gramnegativen, multiresistenten Keimen haben. Es gibt Hinweise oder Fallberichte darüber, dass es auch zu schweren Infektionen gekommen ist. Also das ist nicht so mal eben gemacht. Ich würde im Moment immer noch sagen: Im Rahmen von Studien ja. Und bei einer Indikation ist es im Moment relativ unzweifelhaft: Das ist die chronische, therapierefraktäre Clostridioides-difficile-Infektion. Da wird es eigentlich auch in allen Ländern gemacht, aber bei allen anderen Indikationen würde ich die Finger davon lassen. Es kann sein, dass man andere Risiken damit eingeht.
Axel Enninger: Okay, das heißt, das ist im Jahr 2023 die einzig etablierte Indikation dafür. Bei Colitis ulcerosa laufen Studien, die sind so mäßig erfolgreich. Aber es gab Studien, zum Beispiel bei Patienten mit Morbus Crohn. Da hat man die Patienten fast umgebracht dadurch, dass es eben dann doch eine Translokation von Bakterien in die Blutstrombahn gab. Das heißt, die sind septisch geworden nach diesem Mikrobiomtransfer. Also das ist nicht mal eben Mikrobiomtransfer, neues Mikrobiom und danach bin ich der gesunde Superstar.
Martin Claßen: Genau. Ich würde damit rechnen, dass es mindestens 5, aber eher 10 Jahre dauert, bis wir da verlässliche Daten haben.
Axel Enninger: Und diese Anekdote sollte man auch noch unbedingt erzählen: Da gibt es den Fallbericht des Menschen, der im Rahmen der „Clostridium difficile-“ – sage ich jetzt, sie heißen jetzt anders, sie haben jetzt so ein „…oides“ im Namen – -Therapie einen Mikrobiomtransfer bekommen hat und mit dem ist was passiert?
Martin Claßen: Er hat massiv an Gewicht zugenommen, weil es offensichtlich ein Mikrobiom eines adipösen Menschen war.
Axel Enninger: Das heißt, ich kann auch sozusagen ein adipogenes Mikrobiom transferiert bekommen und dann habe ich ein echtes Problem. Okay, das heißt, „poop in a pill“ ist noch weit entfernt.
Martin Claßen: Also ich habe jetzt gerade noch einmal einen Kommentar von einem deutschen Fachmann dazu gelesen. Er hat gesagt, von 100 potenziellen Spendern, die Sie screenen, kommen ein oder zwei wirklich in Frage.
Axel Enninger: Spender?
Martin Claßen: Stuhlspender, genau. Sie haben alle Ausschlusskriterien oder irgendetwas Negatives.
Axel Enninger: Das ist ein spannendes Thema. Wie sucht man die denn aus? Die muss man wie Organspender mittlerweile ja aussuchen. Sie dürfen eine ganze Reihe von Infektionskrankheiten natürlich nicht gehabt haben, aber eben auch keine psychischen Störungen. Ich meine, man mag es sich kaum vorstellen, da ist jemand, der hat eine bipolare Störung, er ist Spender und der Empfänger entwickelt auf einmal auch eine entsprechende…?
Martin Claßen: Das wissen wir ja noch nicht.
Präbiotika, Probiotika, gesunde Nahrung
Axel Enninger: Das wissen wir noch nicht, aber das ist auch nicht völlig aus der Welt. Deswegen, glaube ich, muss man schon schwer aufpassen. Also das ist nicht eben mal, wie man vor ein paar Jahren dachte, des Rätsels Lösung für ganz viele Dinge. Lass uns vielleicht, wenn wir Richtung Ende des Gesprächs kommen, sagen: Wir haben jetzt viele Dinge genannt, die nicht gut tun und von denen wir nichts wissen. Aber bei ein paar Indikationen wissen wir ja durchaus, dass es vernünftig ist zu intervenieren. Also zum Thema „Präbiotika“ sollten wir vielleicht noch etwas sagen, hast du vorhin schon gesagt. Welche Sorte von Kost empfehlen wir, die besonders viele Präbiotika enthält?
Martin Claßen: Die mediterrane Mischkost für die älteren Kinder, kann man im Prinzip ja auch im ersten Lebensjahr mit Beikost anfangen. Und die Muttermilch ist Präbiotika-reich und auch entsprechende Formula-Milchnahrungen, die angereichert sind entweder mit Frukto-Oligosacchariden oder eben humanen Milcholigosacchariden. Die sind wahrscheinlich präbiotisch wirksam und Laktose natürlich als das Wichtigste.
Axel Enninger: Der Link zu den Probiotika wären dann wiederum fermentierte Lebensmittel, wo dann natürlicherweise bestimmte Probiotika entstehen, Stichwort „Kimchi“, Stichwort „Sauerkraut“, solche Dinge. Und dann kommen wir schon zu den Probiotika.
Martin Claßen: Also wir haben ja einzelne Indikationen, die klar sind. Zum Beispiel bei Menschen mit Colitis ulcerosa, die kein Mesalazin vertragen, geben wir E. coli Nissle als remissionserhaltende Dauertherapie. Wir wissen, dass bei der Proctocolitis des Säuglings wahrscheinlich Laktobazillen probiotisch wirksam sind. Beim Reizdarm haben wir drüber gesprochen: auch Laktobazillen, bei den Trimenonkoliken könnten zumindest in ausgewählten Fällen Laktobazillen sinnvoll sein. Und wir wissen es eben auch bei der akuten viralen Gastroenteritis, dass es den Verlauf der Gastroenteritis günstig beeinflusst, wenn wir Probiotika geben.
Axel Enninger: Okay. Vielen Dank, Martin. Es gibt ein traditionelles Element in diesem Podcast und das sind die Dos und die Don‘ts. Die Dos sind Dinge, die du unbedingt positiv empfiehlst und die Don‘ts sind Dinge, von denen du abrätst oder die dich nerven. Die Reihenfolge bleibt dir überlassen. Du darfst starten.
Ernährung thematisieren, über Sectio und Stillen informieren, keine Dysbakteriegutachten oder Candida-Diagnostik
Martin Claßen: Also die Dos sind natürlich, immer über eine vernünftige Ernährung zu reden. Eigentlich bei jedem Kontakt. Ich bin ja jetzt noch in der Praxis tätig und eigentlich bei jedem Patienten geht es um Ernährung. Ob nun Obstipation, ob Bauchschmerz, ob Übergewicht, Ernährung ist ein Thema. Ich frag auch immer, wie die Kinder und die Familie sich ernährt. Mediterrane Mischkost als ein Stichwort, aber das heißt natürlich pflanzenbasiert. Die neue Strategie der Bundesregierung geht in diese Richtung, finde ich auch sehr gut. Das Zweite ist, gerade in den ersten Lebenstagen und -wochen über dieses Thema reden, das heißt eigentlich schon vor der Geburt, wenn Mütter eine Wunsch-Sectio haben wollen, muss man ihnen erzählen, dass Sectio eben auch negative Aspekte haben kann. Man muss über Muttermilchernährung immer wieder positiv beraten und dann in den ersten 1.000 Tagen eben die entsprechenden guten Nahrungen nehmen und mit der entsprechend guten Beikost anfangen.
Was ich nicht gerne habe, sind diese Dysbakteriegutachten auf zehn Seiten mit vielen bunten Farben, die eigentlich keine Aussage haben. Was ich auch ablehnen würde, sind Probiotikagaben, um das Immunsystem zu stimulieren. Theoretisch ergibt das Sinn, aber es gibt keine guten Studien dazu und ich würde auch keine Candida-Diagnostik im Stuhl machen, weil wir nicht wissen, was wir damit anfangen, ob das nicht die Folge ist, wenn sie nachgewiesen sind. Auch da wieder dieses präanalytische Problem: Wie lange ist der Stuhl unterwegs bis zum Labor? Kann man weglassen. Ich glaube schon, dass es gut wäre, wenn auch Kinderärztinnen und Kinderärzte sich mit diesem Thema Mikrobiom weiter auseinandersetzen und den Eltern Gesprächspartner sind und vieles wissen, damit man eben vernünftig beraten kann. Insofern hoffe ich, dass ein bisschen was von dem, was wir heute diskutiert haben, auch bei den Hörerinnen und Hörern ankommt.
Axel Enninger: Martin, vielen, vielen Dank! Ein spannendes Thema. Wir beide brennen ja für dieses Thema und ich bin ziemlich sicher, dass wenn wir eine Fortsetzung zu dem gleichen Thema in ein paar Jahren machen würden, wir manche Dinge vielleicht völlig anders einschätzen würden oder sich bestimmte Methoden verändert haben. Also das ist Medizin im Wandel, aber ein extrem spannendes Thema. Vielen herzlichen Dank! Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, vielen Dank fürs Zuhören. Wir freuen uns immer über Rückmeldungen. Wir freuen uns natürlich auch über positive Bewertungen, aber wir freuen uns auch über Themenvorschläge. Wie immer in diesem Podcast können Sie wichtige Literatur in unseren Shownotes nachlesen, die wir dort verlinken werden. Vielen, vielen Dank fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal. Wir hören uns.
Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!
Ihr Team von InfectoPharm