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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #29 - 09.06.2023

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

Pullern, pieseln, pinkeln: Nicht-organisches Einnässen am Tag und in der Nacht

Axel Enninger: Heute spreche ich mit:

Dr. Ute Mendes.

 


DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gesprächspartner heute ist Frau Dr. Ute Mendes. Sie ist Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie, und sie leitet als Oberärztin das sozialpädiatrische Zentrum am Vivantes Klinikum in Berlin Friedrichshain. Herzlich willkommen, liebe Frau Mendes!

 

Ute Mendes: Dankeschön! Hallo, Herr Enninger.

 

Axel Enninger: Unser Thema heute heißt Enuresis. Da gibt es ja viele Dinge, die man so hört und die vielleicht richtig und vielleicht nicht so richtig sind. Starten wir doch einfach mal mit einer klassischen Unterhaltung von zwei Kita-Müttern. Die eine sagt: ‚Ah, meine Tochter ist endlich ohne Windeln!‘, und die andere Mutter hat einen viereinhalb Jahre alten Jungen und sagt: ‚Bei uns wird das irgendwie nix.‘ Und die Antwort der einen Mutter ist: ‚Naja, bei Jungs dauert es auch immer ein bisschen länger.‘ Stimmt denn das?

 

Große Spanne beim Trockenwerden – und Mädchen etwas schneller

Ute Mendes: Die Mutter hat Recht, das stimmt. Die Jungs brauchen im Schnitt ein bisschen länger, wobei das nicht heißt, dass es nicht auch Jungs geben kann, die das schnell schaffen. Und insgesamt haben beide Mütter Recht, weil die Spanne unglaublich groß ist. Kinder werden zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten trocken und sauber. Das, was immer gleich ist, ist die Reihenfolge.

 

Axel Enninger: Okay, die Reihenfolge ist wie?

 

Ute Mendes: Die Reihenfolge ist so, dass sich zuerst die Darmkontrolle in der Nacht entwickelt. Also wenn wir hier Kinder mit Störungen der Ausscheidungsfunktionen sehen, sehen wir nie Kinder, die nachts einkoten. Solche Kinder haben eine organische Störung der Ausscheidungsfunktion. Als Nächstes kommt die Darmkontrolle am Tag, dann kommt die Blasenkontrolle am Tag, und als Allerletztes legen die Kinder nachts die Windeln ab.

 

Einnässen im Schlaf: Enuresis; Einnässen tags: Harninkontinenz

Axel Enninger: Das hat wahrscheinlich auch Auswirkungen auf die Therapie, aber dazu kommen wir vielleicht gleich. Jetzt hatten Sie die Unterscheidung gemacht zwischen tags und nachts. Als ich noch fürs „Kreuzel-Examen“ lernen musste; das ist nun schon viele Jahrzehnte her; da gab es immer richtige und falsche Antworten für Enuresis diurna und nocturna. Muss ich das heute noch „kreuzeln“? Müsste ich das noch „kreuzeln“?

 

Ute Mendes: Im Examen vielleicht schon. In der Praxis benutzt man die ICD-10-Klassifikation nicht mehr. Die aktuelle Leitlinie empfiehlt sie nicht mehr, sondern die empfiehlt die ICCS-Klassifikation, die es seit 2016 gibt und die immer wieder aktualisiert wird. Die hat ein anderes Wording. Da heißt das Einnässen am Tag gar nicht mehr Enuresis, sondern das heißt Harninkontinenz und nur noch das Einnässen im Schlaf wird Enuresis genannt. Da ist es egal, ob im Nachtschlaf oder Mittagsschlaf, wobei vom Alter her die meisten Kinder dann nicht mehr mittags schlafen. Aber das Wording wäre jetzt so, dass das Einnässen tags eine Harninkontinenz ist und das Einnässen im Schlaf eine Enuresis. Und die Enuresis diurna gibt es nicht mehr.

 

Axel Enninger: Wenn ich Enuresis sage, meine ich immer nachts?

 

Ute Mendes: Genau.

 

Die drei häufigen Formen der Harninkontinenz

Axel Enninger: Okay, und tagsüber unterscheiden die Spezialisten immer noch verschiedene Formen.

 

Ute Mendes: Genau, da gibt es sehr viele verschiedene Formen. Im Kindesalter spielen nur drei eine Rolle. Das ist die idiopathische Dranginkontinenz, die Inkontinenz bei Miktionsaufschub und die dyskoordinierte Miktion. Das sind die drei Formen, die im Kindesalter vorkommen. Alle anderen sind so selten, dass man sie jetzt hier, glaube ich, nicht besprechen muss.

 

Dranginkontinenz: „Ich muss mal ganz dringend!“, Prinzessinenblase

Axel Enninger: Was heißt jetzt Dranginkontinenz?

 

Ute Mendes: Das Klassische, also wenn sich die Kita-Mütter jetzt weiter unterhalten, dann sagt die eine zu der anderen: ,Wenn ich mein Kind abhole, habe ich immer das Gefühl, das spielt mit mir. Also jetzt, es ist immer noch kalt, dann hole ich es ab und frage: Musst du noch mal aufs Klo? Und mein Max sagt: Nein, muss sich nicht. Dann ziehe ich ihn an. Also erst den Schneeanzug und dann die Mütze und dann den Schal und dann die Handschuhe und dann zuletzt die Stiefel. Und wenn Max vollständig angezogen ist, dann sagt er: Mama, ich muss mal, und zwar ganz dringend!‘ Diese Eltern denken oft, die Kinder sagen nein, weil sie keine Lust haben auf Toilette zu gehen. Aber tatsächlich ist das die ganz typische Anamnese bei der Dranginkontinenz. Normalerweise lässt sich die Blase passiv füllen, das heißt, der Blasenmuskel ist entspannt, während die Blase sich füllt und erst ab einer bestimmten Füllungsmenge reagieren die Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand und melden den Harndrang ans Gehirn zurück. Und bei der Dranginkontinenz lässt sich die Blase nicht passiv füllen, sondern der Detrusor in der Blasenwand kontrahiert schon bei sehr kleinen Füllungsvolumina, sodass die Kinder einen sehr plötzlichen Harndrang haben, sehr oft auf Toilette müssen und dann ganz schnell.

 

Axel Enninger: Das heißt, dieser Regelkreislauf: Blase füllt sich langsam, langsam, langsam, irgendwann ist ein Punkt erreicht, Signal ans Hirn, der tut irgendwie nicht richtig.

 

Ute Mendes: Der tut zu früh! Genau.

 

Axel Enninger: Der tut zu früh.

 

Ute Mendes: Genau. Also, es ist eine überempfindliche oder auch eine „Prinzessinnenblase“. So erkläre ich es den Kindern oft – oder eine „Prinzenblase“. Die meldet sich zu früh und sagt: ‚Ich bin schon voll‘, obwohl es gar nicht stimmt. Aber die Kinder müssen dann tatsächlich, und ansonsten nässen sie eben kleine Mengen ein.

 

Axel Enninger: Okay, und das führt dann dazu, dass die Mütter denken, sie spielen irgendwie Spielchen mit mir, weil er ganz dringend muss und dann kommt nur ein bisschen.

 

Ute Mendes: Richtig, genau!

 

Axel Enninger: Und was ist Harninkontinenz bei Miktionsaufschub?

 

Miktionsaufschub: „Ich muss nicht!“ – Etwas anderes ist wichtiger

Ute Mendes: Das ist die andere Mutter, die den Felix hat. Und Felix sagt auch, wenn er zuhause beim Legospielen ist und die Mutter fragt: ‚Müsstest du nicht mal aufs Klo?‘, dann sagt Felix: ‚Nee, ich muss nicht‘, weil er sein Legospiel nicht unterbrechen will. Jetzt ist das Legospiel eine Möglichkeit. Häufig sitzen die Kinder dann am Computer, wollen das nicht unterbrechen. Oder ich hatte mal ein Mädchen, das zum Beispiel immer die Erste auf der Hofpause sein wollte und deswegen vorher nicht zur Toilette ging, weil sie dann bestimmen konnte, was gespielt wird. Das heißt, diese Kinder merken den Harndrang eigentlich, aber sie finden etwas anderes wichtiger und gehen deswegen nicht. Auch die nässen dann oft kleine Mengen ein. Aber wenn sie aufs Klo gehen, dann haben sie große Miktionsvolumina, weil die Blase kurz vorm Überlaufen ist. Sie gehen insgesamt im Tagesverlauf selten auf die Toilette, anders als die Kinder mit der Dranginkontinenz.

 

Axel Enninger: Das heißt, sie haben einfach keine Zeit, aufs Klo zu gehen.

 

Ute Mendes: Richtig, und früher, als ich anfing zu arbeiten, das ist ja jetzt auch schon etliche Jahre her, war das häufig noch der Ekel vor verschmutzten Schultoiletten oder so etwas, warum die Kinder auch nicht gegangen sind. Heute ist es eher diese Angst, irgendetwas zu verpassen.

Axel Enninger: Wobei das, was man so hört, dass die Schultoiletten jetzt so super angenehm und megagut renoviert sind, ist, glaube ich, auch eher Wunschdenken.

 

Ute Mendes: Genau, aber ich höre es nicht mehr so oft als Begründung. Jetzt ist es eher, dass die Kinder nicht vom Handy oder vom Computer, also vom „Daddeln“, wegwollen. Das ist die häufigere Ursache in der Praxis.

 

Axel Enninger: Mhm, okay, also das heißt, sie haben einfach keine Zeit, die beschäftigen sich mit irgendetwas anderem, und dann gibt’s Riesenmengen. Okay, und was ist dyskoordinierte Miktion? Was ist da nicht koordiniert?

 

Dyskoordinierte Miktion: „Es kommt immer ein bisschen, dann ist eine Pause.“

 

Ute Mendes: Die beiden Muskelaktivitäten sind da nicht gut koordiniert. Also es gibt ja zwei Muskeln, die bei der Harnblasenentleerung eine Rolle spielen. Das eine ist der Sphinkter, der muss aufgehen bei der Harnblasenentleerung, und der Detrusor, der in der Blasenwand drin ist, drückt die Blase aus. Der muss sich kontrahieren. Bei der dyskoordinierten Miktion entspannt sich der Sphinkter nicht, sondern der macht auch zu, und der Detrusor drückt gegen den höheren Druck des geschlossenen Sphinkters. Das sind Kinder, die oft nicht im Strahl Wasser lassen, sondern so portionsweise, und die häufig auch Restharn haben und damit dann organische Komplikationen in Form von Harnwegsinfekten oder sogar aufsteigenden Harnwegsinfekten.

 

Axel Enninger: Gibt’s da anamnestisch typische Dinge, wo sie sagen, okay, die Mutter schildert mir das, und da weiß ich eigentlich schon, wo der Hase langläuft?

 

Ute Mendes: Manchmal, durch den Restharn, müssen sie gleich wieder, weil die Blase sich eben nicht vollständig entleert. Man muss eher die Kinder fragen. Sie pressen beim Wasserlassen. Sie müssen richtig drücken, so wie sonst beim Stuhlgang. Wenn man sie fragt: ‚Kommt das mit einem Mal oder kommt immer ein bisschen und dann ist eine Pause?‘ Diese unterbrochene Miktion können die Kinder beschreiben, häufig aber die Kinder besser als die Eltern.

 

Axel Enninger: Okay, das ist ja ein bisschen so wie bei den verstopften Kindern bei mir in der Sprechstunde. Wenn man ein gut kooperatives Kind rektal untersucht und man sagt: ‚Jetzt press mal!‘, dann passiert manchmal alles Mögliche. Dann kommt Kneifen, Pressen, Kneifen, Pressen im Wechsel, so ähnlich ist das in der Blase dann auch?

 

Ute Mendes: Genau, sie kneifen einfach zu!

 

Erst Darmkontrolle nachts, dann Darmkontrolle tags, dann Blasenkontrolle tags, zum Schluss Blasenkontrolle nachts

 

Axel Enninger: Mhm, und jetzt hatten Sie vorhin schon beim Thema der Reihenfolge wie sich die Sauberkeit entwickelt, gesagt, dass es wahrscheinlich auch Konsequenzen für die Therapie hat. Und da sind ja meine, ich sage jetzt mal „meine Kinder“, nämlich die mit chronischer Verstopfung, tatsächlich diejenigen, die dann entweder bei mir aufschlagen oder bei Ihnen aufschlagen. Wenn sie bei mir aufschlagen, sag ich immer: ‚Um das Pipi kümmern wir uns jetzt erst einmal gar nicht.‘ Ist das okay so?

 

Ute Mendes: Das ist völlig richtig, das mache ich genauso. Wenn sie gleichzeitig verstopft sind beziehungsweise ein Einkoten haben, dann wird das zuerst behandelt, weil das diesem normalen Ablauf der Sauberkeitsentwicklung entspricht. Viele dieser obstipierten Kinder halten ja auch aktiv Stuhl zurück, weil sie Angst haben, dass es weh tut bei der Defäkation. Und wenn sie Stuhlgang zurückhalten, halten sie oft auch Urin zurück, so dass sie dann eine Inkontinenz mit Miktionsaufschub entwickeln. Wenn man den Stuhlgang normalisiert, normalisiert sich bei einem Teil der Kinder die Blasenausscheidungs-Symptomatik gleich mit. Deswegen macht es immer Sinn, mit der Darmsymptomatik anzufangen und dann als Nächstes die Tagessymptomatik beim Einnässen zu behandeln und als Letztes die Nachtsymptomatik.

 

Axel Enninger: Da können wir kurz einen kleinen Querverweis machen. Zum Thema chronische Obstipation gibt es schon eine Podcastfolge mit Herrn Dr. Buderus [Anm. d. Red.: Folge #2 „Obstipation“ vom 19.11.2021]. Ich erklär das auch immer so, dass ich sage: ‚Naja, wenn da eine große Masse von hinten auf die Blase drückt, dann ist da auch gar nicht mehr viel Platz.‘ Dann sieht man ja auf dem Ultraschall auch die Blase, die durch so einen „Riesenbobbel“ von hinten eingedrückt wird. Das macht überhaupt keinen Sinn. Also insofern: erst Stuhl, dann Urin. Und beim Urin sagen Sie: erst tags, dann nachts. Okay, und wie machen Sie das jetzt? Da gibt’s ja unterschiedliche Denkmodelle. Man kann analytisch rangehen, kann sagen: ‚Ach, er hat Mühe, Dinge loszulassen und von sich zu geben‘, und man nähert sich dem Ganzen vom Grundsatz her. Oder würden Sie sagen: ‚Naja, ihr könnt euch aber auch einfach des Symptoms annehmen und entsprechend am Symptom arbeiten.‘

 

Enuresis: Aufräumen mit überholten Mythen – einfach eine Aufwachstörung

Ute Mendes: Also, die meisten Mythen ranken sich tatsächlich um das nächtliche Einnässen, und viele davon gehen tatsächlich auf Sigmund Freud selbst zurück, der sehr abenteuerliche Erklärungen für das nächtliche Einnässen hatte, die heute, glaube ich, alle obsolet sind. Das, was sich sehr hartnäckig hält, ist: „Da, weint nachts die Blase.“ Also, es gibt irgendwelche Konflikte, die das Kind hat, irgendwelche Traumata, die es nicht bewältigt. Deswegen nässt es nachts ein, und es gibt irgendeinen Auslöser, irgendeinen Konflikt, ein Problem, das gelöst werden muss, und dann geht das Einnässen weg.

 

Axel Enninger: Und da würden Sie als Kinder- und Jugendpsychiaterin sagen: ‚Leute, das ist Denken von gestern!‘, oder was sagen Sie dazu?

 

Ute Mendes: Genau, das ist ein Mythos, und mit dem gilt es aufzuräumen. Richtig ist, dass diese Kinder eine Aufwachstörung haben. Genau genommen ist dieses nächtliche Einnässen eine Entwicklungsstörung. Dieser ganze Regelkreis mit der Blasenentleerung im Schlaf, der kortikal unterdrückt wird im Schlaf, der reift eben erst im Laufe des Lebens. Bei manchen Kindern reift er später. Ich muss ja wach werden, wenn meine Blase voll ist und mich nachts weckt. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, wenn man sehr laute Geräusche macht und Kinder davon aufweckt, dass die Gruppe der einnässenden Kinder viel, viel später wach wird, bei viel lauteren Geräuschen als die Kinder, die nicht einnässen. Das ist also das Wesen der Aufwachstörung, und das ist auch das, was die Eltern typischerweise erzählen: ‚Mein Kind kann man wegtragen im Schlaf, das wacht von gar nichts auf!‘ Und eben dann auch nicht von diesem Signal der vollen Blase.

Durch Klingelgeräte das Aufwachen lernen

Axel Enninger: Und was hat das für therapeutische Konsequenzen, die Sie sich dann zunutze machen? Wie arbeiten Sie daran?

 

Ute Mendes: Dass man das Aufmachen letztendlich lernen muss und unterstützen muss. Das ist das, was viele Eltern instinktiv auch schon machen, indem sie Kinder dann wecken. Also viele Eltern, die einnässende Kinder haben, wecken dann, bevor sie selbst ins Bett gehen. Aber sie sehen natürlich von außen nicht, wann die Blase wirklich voll ist. Das, womit man behandelt, also die Methode der ersten Wahl wäre die apparative Verhaltenstherapie, die auch als Klingelgerät-Behandlung bekannt ist. Das heißt, die Kinder haben ein Klingelgerät, das in dem Moment klingelt – und zwar sehr laut – wenn die ersten Tropfen in die Hose gehen. Das ist fast gleichzeitig mit dem Beginn des Einnässens, und es ist so unangenehm, dass die Kinder lernen, kurz vor diesem Klingelsignal wach zu werden.

 

Axel Enninger: Okay, und Klingelsignal klingt jetzt irgendwie noch nett. Also, wenn ich mir vorstelle, ich muss da richtig wach werden, ist das wahrscheinlich nur so mittelmäßig nett, oder?

 

Ute Mendes: Es ist megalaut und wirklich sehr, sehr unangenehm. Trotzdem ist es so, dass viele dieser Kinder, weil sie eben eine Aufwachstörung haben, davon auch nicht wach werden. Ich habe mal mit einer Firma dazu telefoniert, die dann sagte: ‚Es gibt eine Lärmschutzverordnung in Deutschland, wir dürfen nicht lauter.‘ Auch wenn ich dazu Seminare halte, halten sich immer alle die Ohren zu, sobald ich diese Klingelgeräte demonstriere. Es ist wirklich unglaublich laut. Es ist gleichzeitig ein aversives Signal mit dieser lauten Lautstärke. Das führt dann dazu, dass die Kinder tatsächlich eben von diesem weniger aversiven Signal „volle Blase“ anfangen wach zu werden. So scheint dieser Mechanismus zu sein.

 

Axel Enninger: Das heißt, das ist echt bewusste Störung.

 

Ute Mendes: Ja. Erstaunlicherweise, wenn man es den Eltern und den Kindern zeigt, dann gucken die Eltern immer sehr abweisend und sagen: ‚Da wird ja die ganze Familie wach!‘, und das Kind sagt begeistert: ‚Oh, will ich haben‘, weil es den Kindern trotz allem eine Kontrolle über ihr Symptome gibt. Sie sind nicht mehr abhängig davon, dass irgendjemand sie weckt und auf die Toilette schickt, was oft im Halbschlaf ist, und dann auch gar nicht erinnert wird. Die Kinder sind oft viel aufgeschlossener, obwohl es so unangenehm und so laut ist. Es gibt auch Kinder, die das tatsächlich nicht gut vertragen. Also, ich habe immer mal wieder Kinder mit einem Asperger-Autismus versucht damit zu behandeln, die zum Beispiel sehr geräuschempfindlich sind. Die steigen dann auf die Barrikaden, wenn sie das hören. Dann gibt es aber auch Alternativen.

 

Axel Enninger: Okay, dieses Wort „Klingelhose“ – es ist mitnichten irgendein niedliches Ding, was man mal eben so verordnet, sondern es ist eine Apparatur, die auch eingebunden gehört in ordentliche Beratung, sonst nützt das Dinge ja nichts, oder?

 

Klingelgeräte nur mit guter Begleitung

Ute Mendes: Genau also, erstens ist es kein Glöckchen, sondern wirklich ein Alarm, und das Zweite ist, dass, wenn man es den Kindern einfach nur gibt und die es nachts anziehen, dann funktioniert es meistens nicht. Das sind Versuche, die ich schade finde, weil die Motivation der Kinder und der Familien dadurch sinkt, und deswegen heißt das auch apparative Verhaltenstherapie, weil es eben verhaltenstherapeutisch gut eingebunden werden muss. Die Kinder müssen ja aus dem Tiefschlaf heraus wirklich auch wissen, was sie machen müssen: Also dass sie dann zur Toilette gehen, wie sie die Klingel ausschalten, was sie hinterher mit der nassen Hose machen. Sie müssen es im wahrsten Sinne des Wortes „im Schlaf“ können, im Tiefschlaf, und es muss extrem gut automatisiert sein. Das heißt, sie müssen es abends üben, in mehreren Durchgängen, noch im wachen Zustand, damit sie nachts ganz genau wissen, was sie tun müssen.

 

Axel Enninger: Also das heißt, das Ding – klingelt, ist falsch, sondern das Ding – gibt Alarm, und dann kann ich ja, wie wenn ich morgens nicht aufstehen will, einfach auf den Knopf drücken und sagen: ‚Ist mir egal‘, ich stell’s aus, drehe mich wieder um und schlaf weiter, oder?

 

Ute Mendes: Solche Klingelgeräte gibt es, die sind ungünstig, weil wir Menschen alle gerne weiterschlafen und weil das die Kinder natürlich dann genau so machen. Das ideale Klingelgerät lässt sich erst im Bad ausschalten, so dass die Kinder wirklich gezwungen sind aufzustehen, und das klingt so ein bisschen gemein, weil sie dann auch klingelnd durch die ganze Wohnung laufen, und man muss natürlich dann gut drauf achten, wer noch alles wach wird. Aber wenn man es erst in Bad ausschalten kann, dann müssen die Kinder aufstehen. Und was ich mit ihnen in der Sprechstunde übe, ist tatsächlich: ‚Du musst als Erstes ganz wach werden, dann hörst du sofort auf zu pullern, dann gehst du zur Toilette, machst die Knöpfe ab, schaltest das Ding aus, gehst pullern, ziehst dir eine trockene Hose an und gehst wieder schlafen.‘ Das müssen sie abends üben, dann auch mit Unterstützung der Eltern, bis sie es richtig gut können. Und dann ist es tatsächlich bei den Kindern, wo das gut automatisiert ist, so, dass da noch ein paar Urintropfen in der Hose selbst sind, also entweder in der Unterhose, wo der Fühler drin ist, oder in der Klingelhose selbst – es gibt ja unterschiedliche Modelle – aber, dass selbst der Schlafanzug nicht mehr nass ist und auch das Bett trocken. Also wenn sie dann schon sehr gut auf dieses Klingeln reagieren, und wenn sie das so schnell können, dann können sie aufhören, abends zu üben, denn dann können sie es im Schlaf.

 

Spontane Remission ist häufig und Zuwarten kann sinnvoll sein

Axel Enninger: Aber das ist ja ziemlich komplexer Vorgang. Wie alt muss ich denn da sein, dass ich das überhaupt schon machen kann? Ich meine, ich muss üben, ich muss aufstehen, ich muss ins Bad gehen, also, da muss ich doch mindestens, weiß ich nicht, sechs, sieben Jahre alt sein, oder?

 

Ute Mendes: Genau, also Sie liegen genau richtig. Ab 6 geht das normalerweise ganz gut, ab 5 ist es ja überhaupt erst eine Störung. Bis dahin ist es ja noch nicht als pathologisch eingeschätzt, sondern noch im Rahmen der sehr breiten Streuung, und Sechsjährige schaffen das in der Regel ganz gut. Man kann, weil das nächtliche Einnässen so eine hohe Spontanremissionsrate von ungefähr 10–13 % pro Jahr hat, bei einem Kind, das noch keinen Leidensdruck hat, auch getrost noch ein bisschen länger warten.

 

Axel Enninger: Das ist ja ganz spannend. Also es gibt ja, sage ich mal, eher ungeduldige Eltern, die wollen, dass es flott erledigt ist und alles picobello. Aber wenn jetzt Eltern sagen: ‚Ach kommt, das ist so, und es war bei mir auch so.‘ Und das Kind ist 5½ und der Leidensdruck ist eigentlich gar nicht groß, sagen Sie, zuwarten ist gar keine schlechte Option, oder wie?

 

Ute Mendes: Genau!

 

Axel Enninger: Okay, das heißt, es hängt dann schon immer davon ab, wer denn leidet und wie genervt Patient und Eltern oder beide sind.

 

Ute Mendes: Ja, und es ist ja manchmal auch so, dass die Eltern deutlich mehr leiden, weil sie dem Kind auch alles abnehmen. Also, das Kind muss nicht das Bett beziehen, es muss nicht die Bettwäsche waschen und aufhängen und das Waschmittel kaufen und so weiter. Es gibt auch Zehnjährige, die das sozusagen überhaupt nicht interessiert, die dann sagen: ‚Ich will keine Windel, aber das Einnässen stört mich eigentlich nicht.‘ Dann geht es manchmal darum, ein bisschen Leidensdruck zu verlagern und in der Familie besser zu verteilen, also dass die Eltern eben nicht mehr alles machen, sondern dass die Kinder beteiligt sind, sodass eine Motivation auch wächst, das Problem anzugehen.

 

Axel Enninger: Dann gehen wir vielleicht noch einmal zurück zu dem Klingelapparat. Also, Sie haben gesagt, wichtig ist, das Ding muss laut sein und der Ton muss nerven. Man muss es ausschalten im Bad und man muss das Ganze üben. Gibt sonst noch Fallstricke, wo Sie sagen: ‚Das sehe ich immer wieder, und es nervt mich, dass es einfach so verordnet wird‘?

 

Ute Mendes: Also, das Signal muss nahe am Ohr sein. Es gibt Geräte, da ist der Signalgeber in einer Steckdose. Da ist immer die Frage, wo die nächste Steckdose ist, und es gibt auch Hersteller, die damit werben, dass man den Signalgeber ins Elternschlafzimmer stellen kann, der die Eltern dann weckt. Dann kommt es natürlich zu einer Verzögerung. Es geht ja um Symptomkontrolle, die das Kind selbst hat. Manchmal müssen die Eltern unterstützen, aber dann ist es besser, ein Babyfon aufzustellen, sodass die Eltern das Signal mithören – wenn sie es nicht sowieso durch die Wand hören. Aber dass das Signal nahe am Ohr ist, das wäre noch ein weiterer Punkt. Dann werde ich immer mal wieder gefragt, was denn günstiger ist oder ob es einen Unterschied gibt zwischen den Hosen oder den Fühlern, die man in die Unterhose steckt, und den Klingelmatten. Da ist der Unterschied eigentlich klein. Nur ist es so: Wenn man eine Klingelmatte benutzt, dann müsste ja der Urin erst durch den Schlafanzug bis zur Matte. Dann ist es wichtig, dass die Kinder ohne Schlafanzughose schlafen, damit das Signal eben auch sehr rasch ausgelöst wird. Die Klingelmatten sind verhältnismäßig klein, also sie haben nicht Matratzengröße.

 

Axel Enninger: Das heißt, wenn sie sich hin- und herwälzen, dann liegen sie manchmal daneben, und dann…

 

Ute Mendes: Genau, und dann wird das ganze Bett nass und die Klingelmatte bleibt trocken, und es gibt dann kein Signal.

 

Axel Enninger: Mhm, okay, und wenn jetzt so ein Apparat verordnet wird und Sie sagen, die Einweisung war gut und die Erklärung war gut, wie oft sehen Sie dann diese Kinder? Also wie regelmäßig muss man dann gucken, ob es auch tut und ob es auch noch sinnvoll ist?

 

Ute Mendes: Also, den ersten Kontakt mache ich relativ rasch, nach ein bis zwei Wochen, um zu gucken, gibt es irgendwelche Schwierigkeiten, die man schnell auffangen muss oder sollte. Wenn es dann gut läuft, über eine längere Zeit die Kinder rasch wach werden, dann mache ich die Abstände größer. Es macht aber trotzdem Sinn, dranzubleiben. Also, die Kinder dürfen die Klingelhose ablegen, wenn sie 14 Tage lang nicht geklingelt hat. Die meisten Kinder lernen dann auch vom Harndrang wach zu werden. Es gibt eine Subgruppe von Kindern, die schlafen durch, und die werden niemals wach vom Harndrang. Weil das Blasenvolumen groß genug ist, sie trinken abends keine großen Mengen, und da ist die Frage dann, wie man das Wachwerden sozusagen noch üben kann. Da würde man so ein bisschen ein „Überlernen“ machen, indem man abends große Flüssigkeitsmenge gibt, so dass man weiß, die Blase hält das nicht durch, und das Wachwerden am Ende noch trainiert. Dann gibt es eine andere Gruppe, die verlassen sich auf die Klingelhose. Sie werden, wenn sie ganz ehrlich sind und man sie gut kennt, dann werden sie wach vom Harndrang und denken: ‚Ich hab ja die Klingelhose, ich muss jetzt noch nicht aufstehen. Wenn ich wirklich aufstehen muss, klingelt’s ja.‘ Die brauchen dann auch noch mal eine besondere Beratung dazu.

 

Axel Enninger: Sehr spannend [schmunzeln]. Das heißt, ich werde wach und denke, das ist so, wie wenn der Wecker ein Vorklingeln macht oder so ungefähr. Nach dem Motto, ich werde fünf Minuten vor dem Wecker wach, dann drehe ich mich nochmal um und weiß, der Wecker klingelt sowieso gleich nochmal. Okay, wie lange benutzt man denn so ein Ding? Reden wir über Wochen, reden wir über Monate? Wenn wir sagen, zwei Wochen ist nichts passiert, wann sagen wir, jetzt war es erfolgreich? Wie ist da so die Zeitdimension, wie habe ich mir das vorzustellen?

 

Ute Mendes: Also, es gibt Kinder, die sind ganz schnell. Das schnellste Mädchen, an das ich mich erinnere, hat es über die Sommerferien innerhalb von 6 Wochen geschafft, inklusive dieser 2 Wochen trocken sein ohne klingeln. Und es gibt Kinder, die brauchen viel länger. Die alte Leitlinie zum Einnässen hatte ein Zeitkriterium drin, das war bei 12 Wochen. Wenn ein Kind danach nicht trocken war, sollte man es wieder weglassen. Das ist jetzt aus der Leitlinie raus, weil es viele Kinder gibt, die länger brauchen, die aber dann schon häufiger wach werden, wenn sie eben Nächte haben, wo sie nicht ganz so fest schlafen, und in Nächten, wo sie besonders erschöpft sind und dann eben sehr fest schlafen, noch einnässen. Das heißt, manche Kinder 6 Wochen, manche ½ Jahr. Ich habe auch Ausnahmen von Kindern, die haben es 1 Jahr. Aber es gibt ihnen eine Symptomkontrolle, und sie wollen es gerne behalten. Man sieht auch, dass es einen Effekt hat. Wenn es zwei Wochen nicht geklingelt hat, dann erkläre ich ihnen immer: ‚Leg die Klingelhose mal in den Schrank, verschenk sie mal noch nicht. Das ist so ähnlich wie beim Vokabelnlernen. Dein Kopf merkt sich manche Sachen, und manche vergisst er wieder, und es könnte sein, dass er wieder vergisst, wie das Wachwerden geht. Dann ist es gut, wenn man mit der Klingelhose einfach nochmal nachübt, und das ist wie, wenn man mal Vokabeln nochmal lernt. Es geht dann schneller beim zweiten Mal. Und Vokabeln, die man einmal gelernt hat, lernt man auch ein zweites Mal. Das ist kein Beinbruch!‘

 

Axel Enninger: Mhm, okay, also, das heißt, es macht nix. Nach dem Motto: ‚Jetzt hat es alles nichts gebracht. Jetzt haben wir das wochenlang gemacht…‘ Das heißt, das gibt es durchaus einmal, dass es da einen Rückfall gibt. Dann startet man einfach noch mal und sagt, das ist nicht vergebene Liebesmühe, sondern das war einfach so. Finde ich einen netten Vergleich mit dem Vokabelnlernen und ‚leg die Klingelhose mal in den Schrank – vielleicht brauchst du sie noch mal.‘ Ein schönes Bild. Jetzt hatten Sie vorhin schon mal gesagt, es gibt die, die abends wenig trinken und die viel trinken. Das ist ja etwas, das ganz häufig erst einmal gesagt wird. Oma sagt: ‚Naja, der trinkt ja so viel abends.‘ Wie viel Rolle spielt das, dieses abendliche Trinken, und wie sinnvoll ist es, vielleicht, die Trinkmenge zu beschränken?

 

Ute Mendes: Also auch das machen jetzt vielleicht gar nicht mehr so viele Eltern. Vor zehn Jahren noch deutlich mehr. Das ist nicht sinnvoll. Wenn die Kinder abends Durst haben, weil sie zum Beispiel vom Sport kommen, und es ist Hochsommer, dann finde ich Nichttrinkendürfen gemein. Sie dürfen trinken, und das Trinken abends müsste ja dazu führen, dass sie nachts wach werden und auf Toilette gehen. Wenn sie sehr wenig trinken, kann es eben sein, dass sie dann über Nacht durchhalten, genauso wie mit diesem nächtlichen Wecken. Das kann die Spontanremissionszeit überbrücken, aber es führt nicht dazu, dass die Kinder lernen, vom Harndrang wach zu werden.

 

Axel Enninger: Okay, das heißt normale Trinkmenge, normales Essen und Trinken, keine Taschenspielertricks, keine Tricks von Oma diesbezüglich. Auch was getrunken wird, ist wurscht!

 

Ute Mendes: Ja, möglichst nichts Koffeinhaltiges, aber das eben auch aus anderen Gründen nicht. Also es ist sinnvoll, die Trinkmenge gut über den Tag zu verteilen. Die Haupttrinkmenge sollte nie abends liegen, aber bei anderen Kindern auch nicht. Also da unterscheidet sich die Beratung nicht von den Beratungen, die man Eltern geben würde, deren Kinder nicht einnässen.

 

Axel Enninger: Gut, sonst noch Dinge, die Ihnen wichtig sind bei dem Thema – jetzt will ich wieder „Klingelhose“ sagen. Man sagt nicht Klingelhose, sondern?

 

Ute Mendes: Klingelgerät oder apparative Verhaltenstherapie.

 

Axel Enninger: Man sagt Klingelgerät oder apparative Verhaltenstherapie. Gibt es Dinge, die Ihnen noch wichtig sind, die Sie gerne loswerden wollen?

 

Die Motivation ist meist groß, Verstärker nur bei Untergruppen sinnvoll

Ute Mendes: Zum nächtlichen Einnässen ist das, glaube ich, so das, was man wissen sollte, also auch der Umgang mit Rückfällen, Beraten bis zum Schluss. Vielleicht noch mal: Diese Kinder, die nachts nicht aufstehen mögen, weil sie denken, es klingelt ja gleich. Das wäre eine Indikation für einen Verstärkerplan. Ansonsten braucht man eigentlich keine Verstärker, also keine, wie wir Verhaltenstherapeuten sagen würden, keine operante Konditionierung, weil die Kinder oft gut motiviert sind. Da würde ich dann sagen, die Kinder, die vom Harndrang wach werden, die sollen ein Beweisstück auf der Toilette lassen, einen Pantoffel, ein Kuscheltier, was auch immer, und dann gibt es dafür eine kleine Belohnung am nächsten Tag, oder sie dürfen auf dem Rückweg ihre Eltern wecken, und die müssen dann jubeln. Ja!

 

Axel Enninger: Okay, spannende Geschichten [schmunzeln]. Beweisstücke auf der Toilette hinterlassen, dass man es ordentlich gemacht hat. Wunderbar, aber das sind die Taschenspielertricks von Verhaltenstherapeuten. Dann kommen wir jetzt mal zum Einnässen tagsüber. Da hatten wir im Vorfeld gesagt, da ist es auch wichtig, wie man über dieses Thema spricht. Sie hatten vorhin schon, als Sie die apparative Verhaltenstherapie erläutert haben, das Wort „pullern“ benutzt. Das ist zum Beispiel ein Wort, das würde man hier in Schwaben niemals sagen. Niemand sagt „pullern“. Zum Verbalisieren hatten Sie ja auch ein paar Dinge, die Ihnen da wichtig sind.

 

Eine Sprache finden

Ute Mendes: Also, der Klassiker ist, dass Eltern sagen: ‚Ich möchte gerne nochmal was mit Ihnen alleine besprechen. Kann das Kind kurz draußen warten?‘, und dann wird die Ausscheidungsstörung thematisiert. Das ist wahrscheinlich bei Ihren verstopften und einkotenden Kindern ganz genauso.

 

Axel Enninger: Ja.

 

Ute Mendes: Sie sprechen gar nicht drüber. Wichtig ist aber, dass sie darüber sprechen lernen und ihre Scheu und ihre Tabus ablegen. Dann muss man gucken, wie das regional genannt wird: pullern, pinkeln, pieseln, wie auch immer. Die Frage ist, welches Wort benutzt die Familie, möchte die Familie benutzen. Aber wichtig ist es, eine Sprache dafür mit dem Kind zu finden und mit dem Kind auch drüber zu sprechen. Am Anfang verstecken sich die Kinder oft und es ist ihnen unglaublich peinlich, und es wird sehr schnell sehr normal. Da gibt es auch Sachen, die hilfreich sein können. Es gibt eine ganze Menge schöne Bilderbücher dazu. Wenn man solch einen Behandlungsschwerpunkt hat, kriegt man auch immer mehr dazu geschenkt. Und es gibt eine sehr schöne Internetseite, die heißt www.vollehose.com. Auch da gibt es sehr eindeutige Vokabeln dafür. Es gibt sehr eingängige Ohrwurm-Lieder, die das ganz gut enttabuisieren.

 

Oft hilft bei Dranginkontinenz Psychoedukation, kein Blasenretentionstraining

Axel Enninger: Okay, das heißt, eine Sprache finden, vor allem mit dem Kind. Ich nehme an, dass Sie vor allem bei den Ausscheidungsstörungen tagsüber den Kindern erläutern, was denn da passiert. Sie hatten es ja vorhin schon bei der Klassifikation für Ärzte erläutert. Aber wie erklären Sie es denn den Kindern, und wie machen Sie es sich dann therapeutisch zunutze? Wir könnten ja wieder starten mit der Dranginkontinenz, dem Jungen, der sich erst den Schneeanzug anziehen lässt und dann sagt: ‚Ich muss ganz dringend!‘ Was machen Sie mit dem?

 

Ute Mendes: Ja, also wichtig ist erstmal, dass sie verstehen, wie die ableitenden Harnwege überhaupt funktionieren und wie Wasser, das wir trinken, wieder aus unserem Körper herauskommt. Das heißt, ich beginne zu malen und male die Nieren und dann die Harnleiter, durch die es so durchtropft, und dann sammelt es sich in der Blase, die ich auch noch male. Und dann male ich von der Blase zum Kopf, der auch mit auf dem Zettel ist, ein Telefon. Dann, wenn die Blase sich füllt, erkläre ich dem Kind, dass die Blase im Gehirn anruft und Bescheid sagt, dass sie voll ist, dass man dann aufs Klo gehen muss. Dann kann man je nach Form der Inkontinenz am Tag weiter erklären. Also bei der Dranginkontinenz ist es die Prinzessinnenblase, die immer schon ganz früh anruft, und eine Prinzessin kann nicht warten. Dann muss man auch gleich gehen, es sei denn, man ist mitten auf der Straße, dann geht man erst von der Straße runter und sucht sich dann den nächsten Baum oder die nächste Toilette. Bei den Kindern mit dem Miktionsaufschub, da ruft die Blase im Gehirn an, und im Gehirn nimmt niemand ab, und das ist doof. Das ist deswegen doof, weil dann im Schlaf das Gehirn erst recht nicht abnimmt. Also, da ist dann durchgängig niemand zuhause, weil sich das Gehirn an dieses Dauerklingeln von der Blase gewöhnt und hört das irgendwann nicht mehr und überhört es auch. Dann läuft die Blase einfach über. Also, mit dieser Metapher des „Blasentelefons“ kann man es ganz gut erklären, und wenn es die Kinder verstanden haben, dann in der Regel auch die Eltern, die mit zuhören.

 

Axel Enninger: Okay, und wenn Sie jetzt einem Kind erläutert haben: ‚Du hast eine Prinzessinnenblase‘, die Rolle einer Prinzessin ist ja erst einmal meistens eine ziemlich angenehme. Wie kriegen Sie denn das Kind dazu, dass es sagt: ‚Okay, ich hab eine Prinzessinnenblase, so ist das halt bei mir.‘ Wie motivieren Sie die, dass es sich doch ändert?

 

Ute Mendes: Die muss man eigentlich gar nicht motivieren. Also da muss man mehr den Eltern sagen: ‚Das Kind ist nicht schuld, und bitte halten Sie das Kind nicht an, den Harndrang auszuhalten, also leiten Sie nicht zu Haltemanövern an oder zu diesem Blasenretentionstraining.‘ Vor 25 Jahren mussten das noch ganze Generationen von einnässenden Kindern machen und heute weiß man, dass es nicht nur nichts nützt, sondern oft sogar schadet. Und wenn man das erklärt: ‚Wenn du musst, dann musst du gleich gehen!‘, dann machen es die Kinder, solange die Eltern es erlauben. Wenn die natürlich weiter an drei Autobahnraststätten vorbeifahren und sagen: ‚Das schaffst du noch‘, dann quälen sie die Kinder, und im Zweifelsfalle gibt es dann einen nassen Autositz.

 

Axel Enninger: Das heißt, ich habe es jetzt noch nicht verstanden, wo jetzt da der therapeutische Ansatz ist. Sie sagen also: ‚Dann hältst du eben an jeder Autobahnraststätte an, weil dein Kind sagt, ich muss aber jetzt!‘

 

Ute Mendes: Genau, also das ist die Frage, wie viel Psychotherapie das ist. Also, wir nennen das eher „Psychoedukation“, oder auf Deutsch kann man auch sagen: Ich erklär es vernünftig.

 

Axel Enninger: Okay und wie wird es dann besser?

 

Ute Mendes: Es beruhigt sich oft von alleine, wenn man diese Haltemanöver weglässt. Es gibt aber Kinder, die haben eine so ausgeprägte Dranginkontinenz, dass sie tatsächlich Medikamente brauchen. Das ist die einzige Form des Einnässens, wo Medikamente sinnvoll sind.

 

Axel Enninger: Und da reden wir über was?

 

Ute Mendes: Da reden wir entweder über Propiverin, was oft fälschlicherweise beim nächtlichen Einnässen verordnet wird und da nahezu gar keinen Nutzen hat, wenn es nicht gleichzeitig eine Drangsymptomatik ist. Das wäre das Medikament der ersten Wahl, und die Alternative wäre Oxibutynin.

 

Axel Enninger: Okay. Noch mal, weil wir relativ viele junge Zuhörerinnen und Zuhörer haben, das heißt dieses vorhin von Ihnen erwähnte Training, was man nicht mehr macht. Das müssen wir jetzt, glaube ich, noch einmal aussprechen, denn das kennen zwar die Älteren von uns, aber die Jüngeren haben es, glaube ich, noch nie gehört. Also erklären Sie es und sagen Sie gleich hinterher: ‚Nein, aber wir vergessen es gleich wieder, bitte!‘

 

Ute Mendes: Okay, ich erkläre jetzt, was man nicht macht. Blasenretentionstraining. Das heißt, ich gebe dem Kind größere Mengen zu trinken, und wenn das Kind muss, sage ich: ‚Trink mal noch weiter und geh mal noch nicht, halt das mal noch eine Weile aus.‘ Das ist nicht sinnvoll.

 

Axel Enninger: Also, das ist nicht sinnvoll, das vergessen wir jetzt gleich wieder. Aber Blasenretentionstraining war das Stichwort. Es ist 2023 out und wollen wir nicht mehr.

 

Ute Mendes: Richtig.

 

Schickzeiten orientiert am Tagesablauf bei Miktionsaufschub

Axel Enninger: Okay, und denen, denen Sie erläutern, da oben im Gehirn, nimmt keiner das Telefon ab, was kann ich denn da machen? Kann ich da irgendetwas ändern, oder erläutern Sie das? Oder muss man sagen: ‚Nagut, dann muss halt das Handy lauter klingeln‘, oder was macht man da?

 

Ute Mendes: Es klingelt ja nicht lauter. Es klingelt halt so, wie es klingelt und wichtig ist, dass die Kinder lernen, sehr regelmäßig zur Toilette zu gehen. Früher haben wir dann Uhren gestellt, oder heute würde man sagen ein Handysignal, das dann regelmäßig daran erinnert. Das verlässt man auch so ein bisschen und guckt mehr nach dem natürlichen Tagesablauf. Also wann gehen Menschen zur Toilette? Sie gehen morgens nach dem Aufstehen, sie gehen, bevor sie das Haus verlassen, bevor sie auf die Hofpause gehen, bevor sie aus dem Hort abgeholt werden, bevor sie zum Spielplatz runtergehen oder zum Sportverein gehen und abends vorm Schlafengehen. Und wenn man das mit der Familie ein bisschen durchtaktet, nach natürlichen Anlässen zu Toilettengängen, dann kommt man oft auf diese 5–7 normalen Miktionen am Tag. An die sollte das Kind dann erinnert werden. Das schleift sich sozusagen besser ein als mit solch einem akustischen Signal, weil wenn man die Uhr dann nicht mehr piepsen lässt, dann denkt man auch nicht dran, dass man zur Toilette geht. Da würde man etwas Falsches trainieren.

 

Axel Enninger: Das heißt: Schicken in den üblichen Situationen, wo man das auch sonst machen würde, ist völlig in Ordnung, nach dem Motto: ‚Du gehst jetzt zum Kindergeburtstag, geh noch mal kurz vorher aufs Klo‘, oder gehst zum Schwimmunterricht oder sonst wie. Wie man jedes andere Kind auch einmal nochmal zur Toilette schickt. Das ist schon auch okay!

 

Ute Mendes: Genau und „schicken“ heißt „schicken“ und nicht fragen: ‚Musst du mal?‘ Weil dann die Kinder mit dem Miktionsaufschub nein sagen. Sie wollen ja nicht gehen und dann hat man ein Dilemma als Eltern. Wenn man gefragt hat, das Kind sagt nein, und man sagt: ‚Dann geh doch trotzdem‘, dann kommt man in Diskussionen mit dem Kind. ‚Geh nochmal, wir halten den Film an!‘

 

Axel Enninger: Das ist ja auch in meiner Sprechstunde immer wieder mal die Beobachtung, dass es manchen Eltern nicht ganz leicht fällt, etwas direktiver zu werden und zu sagen: ‚Das machst du jetzt.‘ Das ist bei den chronisch Obstipierten ja auch, die dann nach ihren Hauptmahlzeiten ihr Stuhltraining machen nach dem Motto: Das ist jetzt so vereinbart. Das ist wie Händewaschen vorm Essen, Zähneputzen danach, auf die Toilette danach. Das ist eine Regel, und die machen wir jetzt. Dieses Fragen: ‚Möchtest du denn?‘ empfehlen Sie in dieser Situation auch nicht?

 

Ute Mendes: Nee, also, man würde ja ein Kind auch nicht fragen an einer roten Ampel: ‚Möchtest du jetzt stehenbleiben?‘, sondern da gibt’s ja auch eine Regel.

 

Die Don‘ts von Dr. Ute Mendes…

Axel Enninger: Traumhaft! Mein Beispiel auch immer, das mit der roten Ampel. Sehr gut. [Lachen]. Das freut mich. Okay, Frau Mendes, es gibt hier eine Tradition in diesem Podcast, und diese Tradition lautet: Der Gast darf Dos & Don’ts loswerden. Also Dinge, die Sie unbedingt als positive Nachricht loswerden möchten und Dinge, wo Sie ganz klar sagen würden: Leute, das ist over, vergesst das! Wie Sie anfangen, bleibt Ihnen überlassen, ist mir ganz egal.

 

Ute Mendes: Ich würde anfangen mit den Sachen, die man schnell wieder vergessen soll. Also nächtliches Wecken hilft nicht wirklich. Es überbrückt die Spontanremission, führt aber nicht dazu, dass ein Kind lernt, von der vollen Blase wach zu werden. Flüssigkeitsrestriktion am Abend hilft nicht wirklich. Kein Propiverin beim Einnässen nachts, wenn es keine Tagessymptomatik gibt. Keine Psychotherapie, die nur nach Problemen sucht, aber nicht am Symptom arbeitet, und kein Blasenretentionstraining!

 

Axel Enninger: Sehr gut, haben wir ein paarmal besprochen. Sehr gut!

 

… und die Dos

Ute Mendes: Das, was man tun sollte, wäre die Behandlung in der richtigen Reihenfolge, also erst die Darmentleerungsstörung, dann das Einnässen am Tag, dann das Einnässen in der Nacht. Beim Einnässen am Tag ist es wichtig, die Unterform herauszufinden und dann spezifisch zu behandeln. Die Dranginkontinenz gegebenenfalls mit Medikamenten, den Miktionsaufschub mit Schickzeiten und die seltenere dyskoordinierte Miktion mit Biofeedbackgeräten. Ein Klingelgerät darf man nicht nur verschreiben, sondern muss es anleiten. Wichtig ist, das richtige Gerät auszuwählen und das mit dem Kind auch zu besprechen. Wichtig ist, die Eigenmotivation des Kindes zu beachten und zu gucken, was eine Familie insgesamt leisten kann und wie gut Eltern unterstützen.

 

Axel Enninger: Super, vielen herzlichen Dank! Ich habe eine Menge gelernt. Es gibt durchaus Parallelen zur anderen Ausscheidungsstörung, aber manche Dinge sind auch einfach bei Ihnen ein bisschen anders. Vielen herzlichen Dank, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer fürs Zuhören. Wenn es Ihnen gefallen hat, freuen wir uns über eine positive Bewertung und über eine Weiterempfehlung. Wenn es Ihnen nicht gefallen hat, freuen wir uns natürlich über eine Rückmeldung, warum und wieso und was wir besser machen können. Und wir freuen uns auch immer über neue Themenvorschläge und bis zum nächsten Mal!

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

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