consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #8 - 25.03.2022
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Long Covid
Axel Enninger: Heute spreche ich mit Dr. Daniel Vilser.
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gast heute ist Dr. Daniel Vilser aus der Universitäts-Kinderklinik in Jena und wir sprechen heute über ein brandaktuelles Thema, nämlich über Long Covid. Herzlich willkommen, Herr Vilser!
Daniel Vilser: Schönen guten Tag, Herr Enninger!
Axel Enninger: Ja, ich habe schon gesagt, Sie sind an der Universitätskinder-Klinik in Jena. Sie sind dort leitender Oberarzt und Sie leiten den Bereich der Kinder-Kardiologie. Jetzt fragt man sich so ein bisschen: Warum beschäftigt sich eigentlich ein Kinder-Kardiologe mit Long Covid? PIMS würde ich ja verstehen, aber Long Covid und Kinder-Kardiologie? Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
Daniel Vilser: Ja, also aus meiner Sicht ist ja erst einmal das Wichtigste, das man immer ausschließen muss, wenn jemand Probleme hat, dass das Herz in Ordnung ist, weil es ja das wichtigste Organ im Körper ist. Zumindest aus meiner Sicht der Dinge.
Axel Enninger: Da würde der Gastroenterologe jetzt nur bedingt zustimmen. [Lachen]
Das normale Zeitfenster wird den Patienten nicht gerecht, so entstand eine ganzheitliche Sprechstunde
Daniel Vilser: Da habe ich Widerspruch erwartet, ja. Also es ging eigentlich so Stück für Stück, dass wir da hineingerutscht sind. Und dann muss ich an dieser Stelle mal sagen, dass das ja nicht nur ich bin in Jena, sondern ich bin eher der Sprecher dieser Sprechstunde und alle, die sich hier beteiligen, das sind ganz viele verschiedene Abteilungsleiter und Assistenzärzte der verschiedenen Abteilungen, die sich da eingebracht haben. Es fing damit an, dass die Patienten uns überwiesen wurden in die Herz-Sprechstunde mit anhaltenden Problemen nach einer Infektion, dass sie sich nicht erholt haben, nicht mehr belastbar waren. Dann ist die Rationale der Hausärzte und Kinderärzte häufig: Wenn jemand schlecht belastbar ist, dann gucken wir mal zuerst nach dem Herzen. Und so habe ich meine ersten Kontakte in die Richtung gehabt. Wie wir mittlerweile wissen, ist dieses Zeitfenster, das man da in der Sprechstunde hat, viel zu kurz, um den Patienten gerecht zu werden. Das heißt, ich habe mich darauf konzentriert, Herzprobleme auszuschließen, hab meistens auch nichts gefunden und sie wieder nach Hause geschickt oder zu ihrem Kinderarzt. Gebessert hatte sich da noch nichts. Und dann sind sie zur nächsten Sprechstunde gegangen, um zu gucken, ob es dann vielleicht an der Lunge gelegen hat oder an anderen Dingen. Damit wurde man den Patienten nicht gerecht. Darüber ist dann im Januar des letzten Jahres der Gedanke entstanden, eine ganzheitliche Sprechstunde anzubieten, wo man das alles versucht innerhalb eines Tages hineinzupacken.
Axel Enninger: Und da sind Sie in Jena ja tatsächlich führend. Wenn man in die aktuelle Diskussion in den sozialen Medien guckt, dann findet man relativ polarisierende Meinungen zum Thema Long Covid. Da gibt es einerseits Kinder- und Jugendärzte, die twittern, dass sie ständig Long Covid-Patienten sehen, die Sprechstunde voll haben von großen Zahlen von Kindern und Jugendlichen, die erschöpft sind, die Folgeerscheinungen haben. Und dann gibt es auf der anderen Seite eine Fraktion, die sagt: ‚Wir haben ganz viele Kinder mit Covid-Infektionen gesehen, aber wir sehen diese Long Covid-Patienten gar nicht. Wir wissen gar nicht so richtig, wovon ihr redet.‘ Ist das denn nicht vielleicht eine übertriebene Darstellung von Folgeschäden? Auch unter dem Stichwort: Wir haben auch früher schon nach Virusinfektionen Patienten gesehen, die schlecht wieder in die Gänge kommen. Wir denken an den Teenie mit EBV-Infektion, da kannten wir das alle. Da haben wir dem aber keinen Namen gegeben, sondern haben gesagt: ‚Na ja, nach Pfeiffer dauert es halt manchmal.‘ Was ist denn Ihre Einschätzung mittlerweile in dieser Polarisierung? Gibt es tatsächlich Long Covid? Wenn Sie ja sagen – und ich ahne, Sie sagen ja, sonst hätten Sie diese Sprechstunde nicht – wie positionieren Sie sich zwischen diesen beiden Polen?
Ähnlichkeiten und Unterschiede zu bekannten postviralen Fatigue-Syndromen
Daniel Vilser: Also: ja. Es gibt Long Covid, wenn man Long Covid definiert als anhaltende Symptome oder Probleme infolge einer SARS-CoV-2-Infektion. Wenn Sie jetzt von mir hören wollen, Long Covid ist etwas völlig anderes als das, was wir auch nach EBV gesehen haben, also wenn ich sagen soll, Long Covid ist kein postvirales Fatigue-Syndrom oder etwas in die Richtung, das werde ich nicht sagen. Da bin ich mir nicht so sicher, ob das nicht von der Entität – von der Genese her – sehr, sehr ähnlich ist. Ich bin mir auch nicht sicher, dass es dasselbe ist, weil wir doch beim SARS-CoV-2-Virus ein paar Features haben, die ich bei EBV so nicht kenne, zum Beispiel Gerinnungsstörungen. Auch die Art der endothelialen Dysfunktion ist vielleicht etwas, wo ich vorher bei EBV nicht so hingeschaut habe, was mich jetzt aber bei den ganzen Fällen der SARS-CoV-2-Infektionen geradezu anspringt, das also eines der führenden Symptome ist. Deswegen bin ich mir noch nicht so richtig sicher, dass wir es irgendwann mal zusammenführen werden, aber ich könnte es mir schon vorstellen.
Axel Enninger: Sie glauben schon, dass es ein paar sehr spezifische Dinge gibt, die es auch lohnenswert machen, da genau hinzugucken. Sie forschen an dem Thema, aber Sie betreuen eben auch Patienten. Was ich ja spannend finde, ein Statement ist: Ja, es ist etwas Postvirales und ja, es hat etwas ganz Spezifisches und wir sind gerade dabei es zu lernen. Oder? Ist das so der aktuelle Stand?
Daniel Vilser: Genauso würde ich es zusammenfassen. Und selbst wenn es dasselbe ist wie nach EBV – und ich glaube, es ist sehr viel seltener, denn von EBV haben wir eine Vorstellung, dass man sagt, fünf bis sieben Prozent der Kinder nach EBV erholen sich doch sehr schleppend und haben anhaltend Probleme – das ist glaube ich tendenziell eher seltener bei COVID. Es ist nur gerade die Pandemie, die es so hochpoppen lässt, weil sich so viele gleichzeitig damit anstecken.
So häufig ist Long Covid
Axel Enninger: Gibt es da eine Abschätzung, die Sie geben könnten von denjenigen, die SARS-CoV-2-Infektion hatten im Kinder- und Jugendalter: Wie viele entwickeln ein Long Covid?
Daniel Vilser: Also das generelle Problem ist, das haben Sie auch schon angedeutet, ist dieses Diffuse auf der einen Seite, die Symptome, weshalb die Diagnose schwierig ist, zumal es keinen Biomarker gibt, und die Überlagerungen von Lockdown und psychosozialen Problemen, wo es dann manchmal richtig drin verschwindet. Deswegen kann man dazu nur Studien hernehmen, die sich beides angeschaut haben, also mit Kontrollgruppen gearbeitet haben und dort liegen die publizierten Häufigkeiten zwischen 0,8 und 13 %. Die letzten großen Studien aus Dänemark haben 0,8 und 4 % gezeigt[1],[2]. In England – die große CLoCk-Studie[3] – da waren es 13 %, wo sie aber auch selber schon gesagt haben, dass sie wahrscheinlich einen Antwort-Bias mit drin haben, dass es ein bisschen viel sind. Wenn ich selber eine Schätzung abgeben darf, die aber tatsächlich aus dem Bauch herauskommt, dann würde ich 0,5 bis 1 % der Infizierten sagen.
Axel Enninger: Okay, das sind ja deutlich niedrigere Zahlen als das, was so veröffentlicht wurde, oder? Veröffentlicht wird ja gern 5 bis 10 %, so in der „Preisklasse“ und Sie würden es niedriger einschätzen.
Daniel Vilser: Ja, also wie gesagt, die Studienlage – und auf die muss ich mich ja eigentlich letzten Endes beziehen – zeigt eine Range von 0,8 bis 13 %, wenn man nur die Studien einbezieht, die Kontrollgruppen dabeihaben. Nehmen wir die Kontrollgruppe weg, geht es
hoch bis 65 %, aber das ist nicht die richtige Herangehensweise gewesen. Und ja, ich glaube, es ist seltener.
Virus- oder Lockdown-Effekt? Wie lässt sich das feststellen?
Axel Enninger: Okay, können wir das noch mal herausfiltern? Viele Leute sagen: ‚Na ja, eigentlich ist es zum Großteil ein Lockdown-Effekt, den wir sehen.‘ Wir sehen, wir haben den Kindern Dinge zugemutet, die wir ihnen früher nicht zugemutet haben. Sie konnten nicht in die Schule, sie konnten nicht mit ihren Peers spielen. Sie waren, wenn sie in der Schule waren, unter ganz besonderen Bedingungen in der Schule, sodass viele Leute sagen: ‚Na ja, ist denn das ein Virus- oder ist das tatsächlich ein Lockdown-Effekt?‘ Wie kriegt man das aus diesen Studien heraus?
Daniel Vilser: Indem man auf der einen Seite die hernimmt, die eine SARS-CoV-2-Infektion hatten, PCR-gesichert, und ihnen einen Fragebogen gibt und sich dann ein Kollektiv sucht, das ungefähr gleich alt ist, ähnliche Spezifika aufweist, dieselbe Geschlechterverteilung, dieselbe Altersverteilung hat, die bisher keine SARS-CoV-2-Infektion hatte und denen einen Fragebogen zuschickt. Das muss man mit sehr vielen machen. Wenn man das nur mit ein paar macht, kriegt man es nicht heraus. In Dänemark, zum Beispiel, haben sie es mit mehr als 25.000 Kindern so gemacht und dann schaut man sich an, wie der Unterschied ist. Wie viel Symptome bekomme ich zurückgemeldet aus der Gruppe, die keine Infektion hatte und wie viel Prozent bekomme ich zurückgemeldet aus der Gruppe, die eine Infektion hatte und die Differenz aus diesen Rückmeldungen gibt mir ein Gefühl dafür, wie häufig es ist. Und das ist eben im unteren Prozentbereich. Deswegen kann man ganz sicher sagen, in der Pädiatrie nimmt es nicht diese Dimensionen an wie bei den Erwachsenen, wo dann doch in den letzten Studien relativ konstant etwa von 10 % gesprochen wird.
Axel Enninger: Das kann man jetzt auch schon sagen, dass es Unterschiede gibt und dass die Kinder, was Long Covid anbelangt, besser rauskommen als die Erwachsenen?
Daniel Vilser: Ja, das, glaube ich, kann man relativ sicher sagen. Das war auch schon immer unser Gefühl, nicht nur bei der akuten Infektion. Auch dort kann man das – nicht ziemlich sicher, sondern – sehr sicher sagen. Da ist die Studienlage mittlerweile auch sehr, sehr gut, sondern auch bei Long Covid ist es so, dass sie weniger häufig betroffen sind, dass es insgesamt weniger lang dauert. Die Prognose ist auch besser.
Axel Enninger: Also was wir in der Kinderklinik jetzt, also wir reden hier über Ende Februar 2022, sehen: Wir sehen Kinder, die in aller Regel Zeichen eines Atemwegsinfektes haben. Die sind ein, zwei Tage bei uns stationär und sind relativ schnell wieder zu Hause. Wenn sie keine Grunderkrankung haben, wenn sie keine sonstigen Kofaktoren haben und keine Ko-Infektionen. Akut krank waren häufig Patienten, die noch irgendwas anderes mitbrachten. Für langfristig würden Sie jetzt auch sagen: Also Long Covid bei Kindern: Ja, gibt es. Ja, es ist kein Lockdown-Effekt und eindeutig ist es geringer als bei Erwachsenen.
Daniel Vilser: Ja.
Axel Enninger: Okay. Wie kommen Sie denn zur Diagnose? Wie kriegen Sie das denn auseinander gedröselt? Die ganzen Symptome, die einem da angeboten werden und wo Sie dann denken: ‚Na ja, der müde Teenie, der da vor mir sitzt und mal salopp gesprochen seinen Hintern nicht hochbekommt – ist er nicht einfach eingerostet? Untrainiert. Konnte ewig nicht zum Sport gehen und hatte zusätzlich auch noch eine SARS-CoV-2-Infektion.‘ Wie kriegen Sie denn den heraus? Wie kommen Sie zur Diagnose? Das ist mir völlig unklar, ehrlich gesagt.
Long Covid bleibt unterm Strich eine Ausschlussdiagnose
Daniel Vilser: Das ist auch nicht leicht, weil eben, wie wir es gerade schon besprochen haben, in der Literatur mehr als 200 Symptome beschrieben sind, die Long Covid zugeordnet werden. Da kann man sich also die breite Palette aus nahezu allem aussuchen und das irgendwie Long Covid zuordnen. Auf der anderen Seite wissen wir, wir haben auch schon vor der Infektionswelle und vor dem Lockdown genau das, was sie gerade beschrieben haben, gehabt. Auch da gab es schon Kinder, die sich schwach gefühlt haben, die über verschiedene Schmerzen geklagt haben. Also ein bisschen ist es der Schweregrad des Ganzen und manchmal auch die Symptom-Konstellation. Es gibt ein paar Dinge, die sind eben eher typisch für Long Covid aus meiner Sicht, und dazu zählen vor allen Dingen Dysregulation des vegetativen Bereiches dazu. Eine Verstellung der Herzfrequenz nach oben, dass sie teilweise messbar tachykard sind im Tagesverlauf, dass sie relativ viel schwitzen, dass sie über Schwindel klagen, Schwindel bei Lagewechsel, dieses Postural-Tachykardie-Syndrom, das ist etwas, was bei Long Covid gehäuft auftritt. Wir haben Dinge wie Haarausfall, die gar nicht so selten vorkommen. Wir haben Geruchs- und Geschmacksverlust, die pathognomisch sind für diese Infektion. Und je mehr von diesen doch eher spezifischen Dingen zusammenkommen, umso wahrscheinlicher ist es dann auch, dass es Long Covid ist. Unterm Strich bleibt Long Covid eine Ausschlussdiagnose und ich würde bei keinem Patienten, den ich gesehen habe, behaupten, das ist hundertprozentig Long Covid, das kann nichts anderes sein, es kommt nichts anderes in Frage. Und so gehen wir aber auch ran an die Sache. Das heißt, unser Anspruch ist es eigentlich, eine andere Erkrankung zu finden, denn alles andere können wir ja auch viel besser behandeln.
Axel Enninger: Das heißt, Sie sammeln tatsächlich Mosaiksteinchen, Sie sammeln alles, was Ihnen da an Symptomen genannt wird. Aber bei so ein paar Dingen, habe ich jetzt herausgehört, werden Sie hellhörig. Also das Thema Geschmacksstörung ist ja etwas, was ich so vorher noch nicht kannte, was Erwachsene mit akuter Infektion immer wieder schildern. Ich weiß, wir hatten zum Beispiel einen Assistenzarzt, der hat im Nachtdienst nachts um vier irgendwann den Kaffee nicht mehr geschmeckt und war dann helle genug zu sagen: ‚Okay, ich lass mich mal testen‘, und prompt war er positiv. Also ich glaube dieses Geschmacksthema ist ja etwas Einzigartiges. Das kannte ich jedenfalls nicht von anderen Virusinfekten. Das heißt, wenn also jetzt Patienten bei ihnen über Geschmacks- und wahrscheinlich auch Geruchsthemen klagen nach einer Infektion, dann würden Sie sagen, ist das ein Mosaikstein, der einer ist, wo Sie genauer hingucken?
Daniel Vilser: Richtig, weil das relativ spezifisch ist für dieses Virus und eben nicht so häufig bei anderen Dingen vorkommt. Das verschiebt dann das Ganze eher in Richtung Long Covid.
Axel Enninger: Okay, und reden wir mal kurz über den Zeitraum. Was ist denn der Zeitpunkt? Also ich habe eine Infektion und ich schildere Symptome. Da sage ich mal, Sie haben eine Influenza gehabt und Sie sind akut nicht mehr krank und Sie fühlen sich schlecht danach für eine Weile. Wie würden Sie denn jetzt bei Kindern bei einer SARS-CoV-2-Infektion sagen: ‚Na ja, es ist erstmal völlig normal, dass die sich zwei, drei, vier Wochen nicht gut fühlen.‘ Und ab wann würden Sie denn sagen, da sind jetzt Symptome, da lohnt es sich spezifischer nachzugucken. Gibt es einen Zeitraum?
In den ersten 4 Wochen Geduld, es ist eine schwere Viruserkrankung
Daniel Vilser: Ja, wir sagen erst mal: Alles, was innerhalb von vier Wochen passiert, rechnen wir der akuten Erkrankungen hinzu. Vorher möchte ich mich eigentlich damit nicht beschäftigen, außer es geht jetzt wirklich um massive Beeinträchtigungen. Es können natürlich auch Dinge wie eine Myokarditis in Folge einer viralen Entzündung des Herzens auftreten. Das kann auch mal nach 1, 2 oder 3 Wochen sein und das muss man dann natürlich schon ernst nehmen und wahrnehmen und auch diagnostizieren. Aber die eher unspezifischeren Symptome, die möchte ich innerhalb der ersten vier Wochen am liebsten noch nicht sehen, sondern würde den Patienten immer sagen: ‚Gebt euch ein bisschen Geduld. Es ist eine schwere Viruserkrankung, das dauert, bis man sich erholt.‘ Es ist bei SARS-CoV-2 eben nicht anders als bei Influenza.
Axel Enninger: Das heißt, die ersten vier Wochen erst mal Nerven bewahren.
Daniel Vilser: Auch als Hausarzt. Wie gesagt, abgesehen davon, es ist ein wirklich schwer beeinträchtigtes Kind, das vielleicht nur noch zu Hause liegt, sich nicht mehr bewegen kann, über Herzrasen oder Brustschmerzen oder Ähnliches klagt. Da muss man die, wenn auch seltene, aber doch ernste Komplikation Myokarditis ausschließen. Aber wie gesagt, das ist selten, Gott sei Dank. Und dann haben wir von vier bis zwölf Wochen so ein Fenster, das die WHO mit „Ongoing COVID“ bezeichnet, wo wir eine Infektion haben oder Auswirkungen der Infektion immer noch zu spüren, oder eben manchmal auch Symptome, die sich neu entwickeln. Also COVID ist nicht nur, dass die Symptome nicht weggehen, wie zum Beispiel, dass der Husten persistiert, sondern es entwickeln sich tatsächlich neue Symptome, wie zum Beispiel eine Fatigue, dass man so schlecht belastbar ist. Das ist nicht untypisch, dass das mit einer Verzögerung von ein paar Wochen kommt.
Axel Enninger: Das heißt, ich habe die akute Infektion überstanden, denke alles ist wieder super und ein paar Wochen später fühle ich mich schlecht. Das Fenster ist vier bis zwölf Wochen?
Ongoing COVID vier bis acht Wochen nach Infektion
Daniel Vilser: Dass man jetzt von Ongoing COVID spricht: Die WHO sagt, dass alles, was sich innerhalb von zwei Monaten Abstand zur Primärinfektion entwickelt, letzten Endes dieser Infektion zugeordnet werden sollte. Das heißt also, man muss auch irgendwann einmal Schluss machen. Wenn man die Antikörper anschaut und findet und die Infektion vor einem Jahr gewesen ist und jemand hat jetzt gerade seit drei Wochen Symptome einer Fatigue oder von Kopfschmerzen oder von Herzrasen, dann ist es doch sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich, dass es mit der damaligen Erkrankung zusammenhängt. Eine gewisse Korrelation zu der Erkrankung sollte da sein. Und da hat man sich darauf geeinigt, alles, was innerhalb von zwei Monaten nach Infektion auftritt, rechnen wir dem noch zu.
Axel Enninger: Okay, aber das finde ich auch einen wichtigen Punkt. Wir haben ja durchaus Patienten, die alle möglichen Symptome schildern und ein gern genommenes Thema ist, man bringt eine Borrelien-Serologie mit oder man bringt eine andere Serologie mit und irgendjemand hat dann gesagt: ‚Na ja, das ist Folge von…‘ Dabei ist es einfach nur ein Hinweis darauf, da war mal eine Infektion. Da wird aber gerne mal eine Kausalität hergestellt. Das war mir nämlich auch nicht ganz klar, bei Long Covid, wir haben ja nicht wenige Kinder, die hatten eine klinisch relativ blande Infektion, also akute Infektion, dann kommen sie, dann entwickeln sie Beschwerden. Aber wenn jemand eine positive Serologie hatte und die Infektion, sagen wir, ist ein dreiviertel Jahr her, dann würden wir sagen: ‚Also Leute, das hat damit sehr wahrscheinlich nichts zu tun‘, oder?
Daniel Vilser: Genau. Es ist wie immer in der Medizin. Ich würde es jetzt nicht kategorisch ausschließen, aber ich halte es, je länger der Abstand ist, für umso unwahrscheinlicher. Dieses Fenster vier Wochen bis acht Wochen ist noch eines, wo es relativ typisch ist. Mit dieser Latenz entwickelt es sich relativ oft. Je länger es her ist, umso unwahrscheinlicher finde ich es, auch die Literaturdaten. Wie gesagt, die WHO hat sich festgelegt zu sagen, es sollte sich innerhalb dieses Zeitfensters entwickelt haben, damit wir es darauf beziehen können.
Der Kinderarzt sollte immer die erste Instanz sein
Axel Enninger: Da gucken Sie jetzt nach dem Zeitfenster und sammeln dann Mosaiksteinchen. Wie machen Sie das konkret? Also welche Diagnostik kriegen Ihre Patienten, welches Labor kriegen sie, welche „Spezialisten“ sehen sie?
Daniel Vilser: Also, um noch mal ganz kurz auf diesen Zeitraum zurückzukommen. Eigentlich wollen wir sie am liebsten erst nach drei Monaten sehen. Das ist zwar schon manchmal eine echt brutal anstrengende, lange Zeit für die Patienten, wenn sie leiden. Wir wissen aber, dass sich in diesen ersten drei Monaten auch noch so viel bessert. Wir wollen uns ja um die schwereren Fälle kümmern und die, die sich von alleine bessern, am liebsten nicht sehen. Wir wissen eben, in den ersten zwölf Wochen haben sie noch eine ganz gute Chance dafür, sich von allein zu bessern und deswegen eigentlich am liebsten erst nach diesen 12 Wochen und immer erst – auch das ist wichtig – nachdem der Kinderarzt sich mit dem Thema beschäftigt hat. Wir wollen keine Patientengetriebenen, die natürlich jetzt durch mediale Berichterstattung oder durch was auch immer verängstigt sind, besorgt sind. Der Ansprechpartner sollte immer der Kinderarzt sein. Und wenn der dann gesagt: ‚Okay, das ist etwas, was mich überfordert‘, was auch gut sein kann, weil die Patienten nun mal sehr, sehr anstrengend sind, dann kommen wir irgendwann ins Spiel und versuchen es bei uns – es ist sehr ehrgeizig – es innerhalb eines Tages mit einer ambulanten Vorstellung abzudecken. Das kann nur ein großes Krankenhaus hergeben, wo viele Subspezialitäten da sind, wo ein reger Ambulanzbetrieb herrscht. Das ist nichts, was man ambulant in einem kleineren Krankenhaus abbilden kann. Da muss man die Patienten wahrscheinlich stationär aufnehmen, um es innerhalb von ein paar Tagen machen zu können und auch finanziell abbilden zu können.
Das Vorgehen im Klinikum Jena
Axel Enninger: Und was machen sie mit ihnen?
Daniel Vilser: Werden wir mal konkret. Wir nehmen ungefähr 25 ml Blut ab, so grob über den Daumen gepeilt.
Axel Enninger: 25 Milliliter – wir sehen viele Doktorarbeiten, die da entstehen?
Daniel Vilser: So ungefähr ist es. Ein Teil ist tatsächlich Rückstellung, weil wir glauben, dass irgendwann jemand etwas finden wird und wir hoffen, dass wir bei unseren Patienten danach suchen können und dazu beitragen können zu sagen: ‚Ja, das gibt es bei ihnen und jetzt können wir es angehen.‘ Ein Beispiel dafür ist, dass es in den letzten Wochen und Monaten Berichte darüber gibt, dass Auto-Antikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren gefunden worden sind. Das sind Rezeptoren, die sich zum Beispiel auch in den Gefäßwänden befinden, die Gefäßregulation mitbestimmen und die das Bild ein bisschen runder machen – wofür wir uns hier auch sehr interessieren, für diese Dysfunktion des Gefäßsystems, für die Neigung zur Gerinnung, die die Patienten manchmal haben. Das hat man bei uns jetzt implementiert, danach können wir jetzt schauen. Man muss es immer erst an die Klinik holen, so dass es das Labor anbietet, und jetzt können wir zukünftig auch danach gucken. Das ist so ein Beispiel, wo man sagt, deswegen macht es Sinn, ein bisschen mehr Blut abzunehmen. Grundsätzlich für die Routineversorgung der Patienten wollen wir ausschließen, dass sie eine Organdysfunktion haben. Letzten Endes kann all diese diffuse Symptomatik auch irgendeine andere chronische Erkrankung sein. Deswegen gucken wir uns an, ob die Leber in Ordnung ist, ob die Niere in Ordnung ist. Wir gucken uns das Gerinnungssystem an, das Blutbild natürlich. Eine Leukämie oder Ähnliches, auch das kommt ja manchmal mit diffusen Dingen einher… Es soll natürlich auf keinen Fall passieren, dass jemand unter Long Covid läuft und in Wirklichkeit irgendeine Form einer schwerwiegenden und behandelbaren chronischen Erkrankung vorliegt.
Axel Enninger: Das ist jetzt alles Blutbild. Gibt es auch noch Ultraschall?
Daniel Vilser: Ultraschall von allem, genau. Wir haben anfangs Lungen-Ultraschall mitgemacht. Da hat sich in einer ersten Studie gezeigt, viele Veränderungen haben sie nicht und wir beschränken das jetzt auf symptomatische Fälle. Das heißt, wenn wir jemanden haben, der einen sehr beeinträchtigten Husten hat oder in der Lungenfunktion sehr auffällig ist, da kriegt er auch noch ein Lungen-Ultraschall, ansonsten fällt es weg.
Axel Enninger: Das heißt, in Jena sind Sie mit Lungen-Ultraschall schon richtig gut? Das ist ja doch – man liest es immer wieder – Ultraschall: zukünftig die Methode der Wahl bei Lungenerkrankungen. Es gibt viele Krankenhäuser, die das noch nicht gut können. Da sind Sie schon vorne dabei?
Daniel Vilser: Ja. Ich nicht, ich bin da Laie. Gott sei Dank sind in einem großen Haus viele Leute und andere können es machen. Sowohl auf der Neonatologie versuchen wir es wirklich ganz viel einzusetzen als auch auf der Intensivstation. Unsere Radiologen haben versucht es zu evaluieren bei den Long Covid-Patienten. Ich würde noch nicht sagen, dass es eine Standard-Methode ist und dass sich jetzt alle unsere Kinder-Radiologen damit total sicher fühlen und das dem Röntgen-Thorax vorziehen, dem CT oder etwas anderem. Aber es wird benutzt und wir haben den Anspruch. Professor Mentzel ist unser Kinder-Radiologe und einer der führenden Kinder-Radiologen in Deutschland und er hat schon den Anspruch, so viel wie möglich ohne Strahlung auszukommen und sich alles mit Ultraschall zu erschließen.
Axel Enninger: Sehr cool, okay.
Was dazu gehört: Blutbild, Herz-Ultraschall, Lungenfunktion, Kreislauftest, ausführliches psychologisches Assessment
Daniel Vilser: Und genauso verfahren wir dabei mit Bauch-Ultraschall. Auch da sind wir davon abgekommen, routinemäßig Bauch-Ultraschall zu machen, sondern wir machen den tatsächlich nur fokussiert, wenn es Symptome in dem Bereich gibt. Auch da ist der Hintergrund, dass wir es anfangs bei allen gemacht haben und eben dort keine standardmäßigen Auffälligkeiten gefunden haben. Was alle bekommen, unabhängig von Symptomen oder nicht, ist ein Herz-Ultraschall, eine Echo-Kardiographie. Letzten Endes die schwerwiegendste Komplikation, die Myokarditis, ich habe sie schon einmal angesprochen, die auch sehr diffus sein kann, ein EKG, eine Lungenfunktionsprüfung. Wir machen diverse Kreislauftests, wir machen Belastungstests. Wir untersuchen, wie die Gefäße mit Stress umgehen können mit einer ganz speziellen Augenhintergrund-Untersuchung. Wir haben ein ausführliches psychologisches Assessment, das natürlich ganz wichtig ist, weil gerade zum Beispiel Depressionen auch ein ganz, ganz ähnliches Bild machen können. Weil wir psychosomatische Erkrankungen haben, die sich nahezu identisch zu Long Covid verhalten. Die wollen wir gerne finden, weil wir sie einer Behandlung zuführen können.
Axel Enninger: Nur kurze Frage: EEG?
Daniel Vilser: Nein, nicht routinemäßig, nein.
Axel Enninger: Okay, das heißt apparativ, um es zusammenzufassen: Sono Abdomen nur bei spezifischen Hinweisen. Herzecho jeder. EKG jeder. Und was fehlte mir noch?
Daniel Vilser: Die Lungenfunktion, Belastungs- und Kreislauftests, das ist noch ein wichtiger Punkt.
Axel Enninger: Das ist, was Sie apparativ tun. Dann kommt die psychologische Evaluation. Das heißt, es ist jedes Mal ein Psychologe dabei?
Daniel Vilser: Ja, so ist das Ziel. Wenn der Psychologe nicht krank ist oder irgendwas. Von COVID bleibt ja auch das Personal nicht verschont. Da hat man zwischenzeitlich schon auch Probleme gehabt, weil natürlich die Kapazitäten gerade von Psychologen – das ist glaube ich in keiner Klinik anders – rar sind. Da mal eben 10, 20 Stunden extra herauszupressen, das hat uns auch bei anderen Sachen ein bisschen an die Grenze gebracht, die Kapazitäten zu schaffen.
Axel Enninger: Das sind strukturierte Interviews oder Fragebögen oder eine Kombination aus beiden?
Daniel Vilser: Eine Kombination aus beiden. Während der Wartezeiten hier füllen sie fünf verschiedene Fragebögen aus: Angst-Fragebogen, Depressions-Fragebogen, ein Schlaf-Fragebogen. Was ich bisher nicht erwähnt habe ist, wir sehen doch ordentlich viele Schlafauffälligkeiten und unsere Schlafmediziner evaluieren das mit zwei Bögen.
Axel Enninger: Okay. Das ist die Diagnostik. Und dann hat irgendeiner den Hut auf und sagt hopp oder topp oder wie geht es dann?
Daniel Vilser: Dann setzen wir uns in der Regel zusammen. Es gibt einen Arzt, der für die Patienten zuständig ist, wenn sie kommen, der also die Anamnese und den Status am Anfang macht und damit auch zuständig ist für die Interpretation der Werte. Meistens setzen wir uns dann zusammen und diskutieren es. In der Regel ist das ein Assistenzarzt, der die Patienten aufnimmt und den Status macht und vor dem Abschlussgespräch – meistens führen wir das Abschlussgespräch zusammen – setzen wir uns dann noch mal hin und gucken, was die anderen sagen und müssen es dann in irgendeiner Form interpretieren und Empfehlungen herausgeben.
Nicht schwarz oder weiß betrachten – du hast Long Covid, du hast es nicht – wir versuchen jedem Patienten zu helfen
Axel Enninger: Da setzen sich der Psychologe und der Kardiologe, der in dem Fall Sie sind, zusammen und dann puzzelt man und schaut: Reicht uns das an Puzzlestücken, was wir haben? Und so wie Sie es gesagt haben, können wir davon ausgehen, dass Sie viele Patienten haben, wo eigentlich ein, zwei Puzzlestücke fehlen, aber wo Sie dann, wenn ausreichend Puzzlestücke da sind, sagen: ‚Okay, das reicht uns jetzt für die Diagnosestellung.‘ Kann ich mir das so vorstellen?
Daniel Vilser: So ist es. Wobei ich, glaube ich, dieses ganze Thema viel weniger schwarz und weiß betrachte als die meisten anderen. Wir sind noch nicht darauf zu sprechen gekommen, aber wir haben ja noch gar keine richtige kausale Therapie für das Ganze. Deswegen habe ich eigentlich kein Problem damit zu sagen: ‚Okay, ich glaube, das ist Long Covid, es ist verursacht durch Long Covid. Ich sehe hier trotzdem eine hohe Angstkomponente, weil die Patienten glauben, es geht nicht weg. Ich sehe eine hohe Leidenskomponente, die ich möglicherweise auch mit einer Psychotherapie angehen kann.‘ Vielleicht sehe ich auch Überlagerungen zu einer psychosomatischen Erkrankung. Warum sollte ich nicht versuchen hier mit einer Psychotherapie etwas zu erreichen? Also das sind für mich Dinge, die sich nicht widersprechen.
Axel Enninger: Okay, das heißt, es ist nicht schwarz oder weiß. Punkte-Score XYZ: Du hast Long Covid, du hast kein Long Covid, sondern die haben natürlich alle ein Problem, sonst wären sie nicht bei Ihnen in der Sprechstunde. Und dann versuchen Sie, sage ich mal, fast ein bisschen unabhängig von der Diagnose für die Patienten eine individuelle Lösung zu finden. Habe ich es so verstanden?
Daniel Vilser: Genauso ist es. Wir versuchen dem Patienten zu helfen, egal ob wir ihnen denn nun die Diagnose verpassen oder nicht. Für uns ist das insofern noch ein bisschen wichtiger, als dass wir versuchen, wissenschaftlich damit zu arbeiten und auch dazu beizutragen entweder Biomarker zu finden oder auch die Phänotypisierung ein bisschen zu schärfen. Deswegen ist es für uns nicht so ganz unwichtig zu versuchen, sie einzuteilen: eher wahrscheinlich und eher unwahrscheinlich. Ich glaube, für den Patienten – macht es keinen Unterschied stimmt nicht, weil natürlich keiner hören will, dass er eine psychosomatische Erkrankung hat. Das muss man ja auch zugeben. Es will keiner hören. Wenn ich das Wort in den Mund nehme, dann sehe ich in der Regel Augenverleiern, weil sie, bevor sie bei uns sind, schon drei bis vier Anläufe hatten, irgendwo ernst genommen zu werden und dann innerhalb von drei Minuten meistens gesagt wird: ‚Das ist nur die Psyche, das liegt am Lockdown. Mal zusammenreißen, Arschbacken zusammenkneifen und wieder den Alltag aufnehmen.‘ Deswegen ist das immer ein schwieriges Thema.
Axel Enninger: Bei unseren Patienten aus der Gastro-Sprechstunde mit funktionellen gastrointestinalen Störungen gibt es aber durchaus Studien, die zeigen, es hilft, wenn man das Problem benennen kann, wenn man dem Kind einen Namen geben kann, wenn man sagen kann: Du hast nicht nix, sondern du hast funktionelle Bauchschmerzen. Du hast eine funktionelle Dyspepsie, du hast einen Reizdarm, dann hilft es den Patienten, weil man es benennen kann und die Patienten sich gleichzeitig ernst genommen fühlen. Das, ahne ich, ist ja wahrscheinlich bei den Long Covid-Patienten auch so, oder?
Die eigene Leistungsfähigkeit berücksichtigen, um einen Crash zu vermeiden
Daniel Vilser: Genau. Genauso ist es. Ich schicke auch kaum jemanden weg mit der Information: ‚Hieran liegt es nicht.‘ Die gibt es auch, also wir haben so 10, 20 % dann doch, die wir aussortieren und sagen: ‚Also tut mir leid, das ist in der Konstellation total unwahrscheinlich, dass es damit zusammenhängt.‘ Bei den meisten anderen ist es eben dieser „Grau-Range“ von ‚es ist hoch wahrscheinlich‘ oder ‚es kann schon gut sein‘. All denen ist dann zumindest damit geholfen, dass man ihnen den Weg vorgeben kann und dass man versuchen kann, das Umfeld so zu modulieren, dass sie besser klarkommen und, ja, eine Heilungschancen haben. Und vor allem nicht in so einen Zirkel der chronischen Erkrankungen hineinkommen, wo sich das dann irgendwann alles nur noch selbst verstärkt.
Axel Enninger: Was können Sie denn therapeutisch anbieten?
Daniel Vilser: Das sind eigentlich klassisch die Dinge, die wir im SPZ auch benutzen. Da hat man ja auch oft mit Patienten zu tun, die man kurativ gar nicht so… die man nicht heilen kann. Wo es darum geht, wie schon gerade gesagt, das Umfeld zu modulieren, also die Belastung ganz klar zu definieren und zu sagen: ‚Das könnt ihr machen, das könnt ihr nicht machen.‘ Ein großes Thema bei vielen Patienten ist dieses Pacing. Dass man nicht über seine Leistungsfähigkeit geht, weil es einen Teil der Patienten gibt, die dann einen sogenannten Crash erleiden, wenn sie sich zu sehr beanspruchen. Ein Großteil will einfach mehr machen. Sie sind total frustriert, dass es nicht geht. Sie probieren es immer wieder, crashen dann und damit verlängern sie quasi den möglichen Heilungsverlauf. Es ist ganz wichtig, dieses Pacing einzustellen.
Axel Enninger: Wie muss ich mir das vorstellen – crashen?
Daniel Vilser: Ein Crash ist, wenn ein Patient ist, weil er sich jetzt gerade mal halbwegs vernünftig fühlt, zum Beispiel mit dem Fahrrad zur Schule fährt, den Berg hochfährt. Das geht noch irgendwie alles. Dann ist er noch 1 bis 2 Stunden in der Schule, strengt sich dort auch noch an, weil er einfach sagt: ‚Es muss doch irgendwie gehen‘, und das teilweise auch vom Umfeld gesagt bekommt und dann merkt er schon: ‚Okay, das geht nicht gut.‘ Dann geht er nach Hause und liegt zwei, drei Tage im Bett und es geht gar nichts mehr. Davor war er zumindest in der Lage, von zu Hause am Unterricht teilzunehmen, per Fernunterricht und so seinen häuslichen Alltag zu bewerkstelligen.
Axel Enninger: Das wäre unter dem Stichwort „Pacing“ jemand, der quasi „overpaced“.
Daniel Vilser: Genau.
Axel Enninger: Gibt es auch die „Underpacer“, die Trägen, die einen Turbolader brauchen?
Daniel Vilser: Die gibt es schon auch. Das sind oftmals die, die auch Richtung Psychosomatik gehen, die man eher ein bisschen anstupsen muss. Das sind die, die letzten Endes auch einfacher zu behandeln sind. Die kann ich mit Physiotherapie, Ergotherapie, mit klassischen Rehabilitationsmaßnahmen angehen. Das sind eigentlich nicht die, die schwer sind, aber die gibt es auch. Sie machen sogar den größeren Teil aus. Die Gruppe, die ich gerade beschrieben habe, sind die, die am schwersten krank sind, die Gott sei Dank seltener sind und die auch sehr, sehr, sehr schwierig anzugehen sind. Und da waren wir schon gleich bei den nächsten Konzepten: also Physiotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie.
Axel Enninger: Gibt es medikamentös etwas?
Daniel Vilser: Ja, also wir kontrollieren ja diverse Vitamin-Spiegel mit. Wenn wir da etwas finden, was im Graubereich oder im unteren Bereich ist, dann korrigieren wir das. Vitamin D ist da natürlich sehr beliebt zum Beispiel. Ich halte das Vitamin D selten für ursächlich für die ganze Symptomatik. Aber es wird auch immer wieder diskutiert, dass eine gewisse Leistungsminderung, Leistungsschwäche hat, wenn der Spiegel sehr niedrig ist. Gerade wenn wir uns jetzt im Herbst befinden und dort grenzwertige Vitamin-D-Spiegel finden oder erniedrigte, dann wissen wir ja auch, dass es im Winter nicht besser werden wird. Dann ist das etwas, das wir zum Beispiel ausgleichen.
Axel Enninger: Also geht es um Mikronährstoffmangel und Nachgucken. Ich glaube auch dieses Vitamin-D-Thema ist ein bisschen offen. Wahrscheinlich ist mehr dran als man denkt, aber das Allheilmittel wird Vitamin D wahrscheinlich auch nicht sein. Jetzt ahnt man ja, dass sich in solch einem Feld möglicherweise auch schräge Methoden versuchen zu etablieren oder den Patienten schräge Methoden angeboten werden. Können Sie dazu ein bisschen sagen?
Daniel Vilser: Ja. Das hat man ja auch bei der akuten Infektion schon mitbekommen, dass es verschiedene Vorschläge gab, unter anderem vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, was man nicht machen könnte, um das Virus zu bekämpfen. Das fing an mit Desinfektionsmittel trinken oder noch besser spritzen, woraufhin es in den USA ein erhöhtes Aufkommen in den Notfallambulanz gab von denen, die es tatsächlich ausprobiert haben.
Spannende Ansätze: Antikörper gegen G-proteingekoppelte Rezeptoren, hyperbarer Sauerstoff, Lipid-Apharese
Axel Enninger: Ivermectin war ausverkauft in Österreich.
Daniel Vilser: Ivermectin. Nicht nur in Österreich, sondern vor allen Dingen auch in ganz Südamerika haben sie so tatsächlich behandelt. Überall sonst war eher das Malariamittel die Idee gewesen und in Südamerika haben sie sich mit diesem Parasitenmittel Ivermectin zugehauen. Da konnte man mittlerweile gottseidank zeigen, dass es nicht hilft. Ivermectin wird aber immer noch diskutiert, auch bei der Behandlung von Long Covid. Ich habe in den USA einige Ärztegruppen gesehen, die sich damit beschäftigen, die es tatsächlich empfehlen. Da habe ich aber noch nicht genug überzeugende Daten gesehen. Wenn man sich mal überlegt, was wir hier in Deutschland machen – ich hatte vorhin schon mal erwähnt, dass es diese Antikörper gibt gegen die G-proteingekoppelten Rezeptoren und es gibt ein Medikament, das eigentlich für die Herzinsuffizienz entwickelt wurde in Berlin, das gegen solche Antikörper gerichtet ist, sie herausfangen soll, weil sie auch bei der Herzinsuffizienz eine Rolle spielen. Durch eine Verbindung einer Erlanger Augenärztin zu dieser Firma, die damit schon vorher geforscht hatte, hat sie es probiert bei Patienten und konnte erst einmal zeigen in einzelnen Fallberichten, dass es ihnen geholfen hat. Da gibt es im Moment eine klinische Studie, die vom BMBF gefördert wird, und wo ich sehr hoffe, dass dabei etwas herauskommt, weil das mal ein kausaler Ansatz wäre und ich es mir gut vorstellen kann. Das sind Rezeptoren, die für die Regulation des Blutflusses verantwortlich sind und die Antikörper verursachen dort eine Inflammation. Ich kann mir gut vorstellen, dass es hilft. Das ist ein Punkt. Ein zweiter ist, dass gerade der Brain Fog, also dieser Nebel im Kopf, den viele beschreiben, die Konzentrationsstörungen, die Merkstörungen, die Unfähigkeit, einfach auf dem Niveau geistig zu arbeiten, wie man es früher gemacht hat, die soll ganz gut auf die hyperbare Sauerstofftherapie reagieren. Der Ansatz ist dort ganz ähnlich. Es kommt einfach zu wenig Sauerstoff an und das ist der Grund des ganzen Übels, weil die Durchblutung es nicht richtig schafft, Sauerstoff dahin zu bringen. Und in mehreren Sitzungen, das sind dann meistens so 10 Sitzungen, konnte doch schon in einigen Fallserien gezeigt werden, dass sie sich tatsächlich erheblich verbessern mit der hyperbaren Sauerstofftherapie.
Axel Enninger: Da stelle ich mir die Kontrollgruppe ein bisschen schwierig vor. Man muss ja auch ein bissel aufpassen, denn viele von diesen Kammern werden privatwirtschaftlich betrieben. Also da hätte ich jetzt mal so ein bisschen… whwhwh komisch…
Daniel Vilser: Das ist genau der Punkt. Auch da habe ich noch keine kontrollierte Studie gesehen, randomisiert mit einer Kontrollgruppe, aber ich glaube, das ist auch in Planung, da habe ich gelesen, dass es verschiedene dieser Druckkammern auch planen, es randomisiert zu zeigen. Natürlich ist es immer schwierig, es ist doch ein sehr intensiver Eingriff in das Gesamtkonzept Mensch. Es macht sehr viel und es kann auch Dinge jenseits der eigentlich beabsichtigten Wirkweise machen. Da sind wir beim nächsten Thema, dass es auch den Ansatz gibt, mittels Apharese, einer speziellen Lipid-Apharese, Fette und Gerinnsel aus dem Blut quasi herauszufiltern mit einem extrakorporalen Verfahren. Auch das kann ich mir sehr, sehr gut vorstellen, dass es funktioniert, weil auch das wieder in den mikrovaskulären Bereich geht, Durchblutungsstörungen und Fehlregulationen.
Axel Enninger: Also da gibt es durchaus spannende Ansätze. Was sagen Sie denn den Patienten, wenn sie fragen: ‚Wie lange muss ich denn damit rechnen?‘ Welche Prognose haben sie?
„Ultra Long Covid“ ist die Rarität. Die grundsätzliche Prognose ist gut
Daniel Vilser: Ja, da bin ich meistens leider am Schulterzucken, weil es sich für den einzelnen Patienten schlecht voraussagen lässt, wie eigentlich immer am Anfang einer Erkrankung. Wir können das individuell für den Einzelnen nie sicher sagen. Man kann die generelle Auskunft geben, dass es mit jeder Woche weniger Patienten werden, die es betrifft. Das hilft jetzt denen nicht – und auch die gibt es – die über Monate und Jahre darüber klagen. Die Patientin, die ich behandele, die es am längsten hat, hat es in der ersten Welle bekommen, das heißt 2020. Im April ist sie krank geworden, hat dann im Mai Long Covid-Symptome bekommen und hat sie im Moment immer noch. Das wären beinahe zwei Jahre. Aber das ist Gott sei Dank eine Rarität.
Axel Enninger: Also würden Sie schon sagen, es gibt Ausnahmen? Wir haben jetzt nicht zu erwarten, dass wir Hunderttausende von „Long Long Covids“ haben, sozusagen von „Ultra Long Covids“, wie auch immer man sie nennt.
Daniel Vilser: Die meisten, also auch die dänische Studie, die jetzt erst vor ein, zwei Wochen herausgekommen ist, spricht von einem bis fünf Monaten, in denen die meisten dann doch wieder geheilt sind. Nur ein geringer Prozentsatz von 3 bis 4 % in dieser Studie hatten das noch länger gehabt.
Axel Enninger: Okay, das heißt, man kann den Patienten durchaus sagen, es ist zwar jetzt nervig und beeinträchtigend und man wirkt da wahrscheinlich schon ein bisschen verzweifelt oder neigt zur Verzweiflung, aber grundsätzlich haben sie eine ganz gute Chance, dass es tatsächlich irgendwann vorbei ist mit dem Spuk.
Daniel Vilser: Bei der ersten Vorstellung geht es noch, weil wir relativ viel haben, was wir gucken, was wir ausschließen, weil wir ihnen auch eine gewisse Beruhigung mitgeben können und sagen können: ‚Die ganzen Organe, die wir uns angeschaut haben, die sind in Ordnung. Es gibt jetzt erst mal keine fassbare Grunderkrankung und wir glauben, es liegt eben daran und ihr könnt das und das probieren. Und jetzt geben wir euch eine Sportbefreiung mit und jetzt schreiben wir dem Lehrer, dass du erst mal nur vier Stunden in der Schule bist, weil das andere ja keinen Sinn macht. Dann sehen wir mal weiter.‘ Schwieriger wird es dann, wenn sie tatsächlich nach zwei, drei Monaten wiederkommen und es hat sich alles noch nicht gebessert und nicht in die richtige Richtung bewegt, dann muss man sich mehr überlegen.
Axel Enninger: Okay, aber dennoch auch da kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Denn die langfristige Prognose ist gut.
Daniel Vilser: …ist gut.
Axel Enninger: …ist grundsätzlich gut. Herr Vilser, es gibt eine Tradition in diesem Podcast und diese Tradition heißt: Der Gast darf sich zwei oder drei Dos oder Don’ts überlegen, Dinge, die er unbedingt positiv empfehlen möchte und Dinge, vor denen er gerne warnen möchte. Die Reihenfolge dürfen Sie bestimmen. Sie dürfen loslegen mit Don’ts oder Dos.
Das erste „Do“: Patienten ernst nehmen
Daniel Vilser: Was ich mir sehr wünschen würde ist, dass ein Patient ernst genommen wird, dass man akzeptiert, dass es nach einer solchen viralen Infektion Symptome gibt, die länger anhalten, dass es nicht nur eingebildet ist und dass die Patienten vor allen Dingen einen ernsten Leidensdruck haben – und einen ernst zu nehmenden Leidensdruck. Deswegen wäre mein erstes Do: Bitte nehmt die Patienten ernst. Damit fast zusammenhängend der zweite Teil: Wenn man sie ernst nimmt, muss man sich für sie Zeit nehmen. Das ist das Zweite, was man wird tun müssen. Wie bei allen chronischen Erkrankungen, wie bei allem, wo die Psyche eine Rolle spielt. Das ist nicht in fünf Minuten Zeit geschafft, was so die normale Taktung des Niedergelassenen ist, gerade im Winter. Was sollte man noch tun? Man sollte unbedingt eine behandelbare chronische Erkrankung ausschließen. Es sollte bitte auch nicht passieren, dass man sich darauf ausruht und sagt: ‚Ja, der hat Long Covid, da muss ich jetzt nichts weiter gucken, ist halt so, wird irgendwann besser‘, und dann hat man vielleicht eine beginnende Lebererkrankung oder etwas anderes übersehen oder eine chronisch entzündliche Darmerkrankung. Das alles wäre unglücklich. Und wenn wir also bei Don‘ t dos sind, dann ist das wichtigste Don’t do: keine Diagnose in 5 Minuten stellen. Das ist einfach nicht möglich. Und das Zweite: nicht zu früh festlegen. Das finde ich auch noch recht wichtig. Also ich versuche so lange wie möglich alle Richtungen offen zu lassen, auch open minded zu bleiben und nicht von vornherein zu sagen: ‚Okay, die haben jetzt hier aber wirklich einen an der Waffel. Da machen wir dir die Diagnostik kurz.‘ Ich habe auch schon wirklich danebengelegen bei einer Patientin, die im Rollstuhl hereinkam, sich nicht bewegen konnte, wo ich fest überzeugt war, dass das ein neurologischer Virus-Schaden ist, weil sie wirklich überhaupt nicht mehr gehen konnte. Am Ende haben wir es dann doch mit 3 Wochen Psychotherapie und anderen Methoden hinbekommen. Also open minded bleiben.
Axel Enninger: Das schadet in vielerlei Hinsicht in unserem Beruf nicht und auch grundsätzlich nicht. Herr Vilser, vielen vielen Dank! Ich fand es sehr, sehr spannend. Hat mich sehr gefreut, da einen Einblick in Ihre Sprechstunde zu bekommen. Und wie immer, es ist ein kompliziertes Thema und da gibt es eben nicht die einfachen Schwarz-Weiß-Lösungen. Ich glaube, das gilt ja für ganz viele Bereiche in unserer Medizin und so auch hier und das muss man dann manchmal auch einfach aushalten. Vielen Dank noch mal für das Gespräch.
Daniel Vilser: Vielen Dank für die Einladung.
Axel Enninger: Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn es Ihnen gefallen hat, freuen wir uns über eine positive Bewertung. Wenn Sie möchten, können Sie unser Gespräch auch in den Shownotes noch einmal nachlesen. Und wenn Sie es noch nicht sind, können Sie gerne Abonnent werden. Auf den üblichen Stellen, natürlich kostenfrei. Vielen Dank und bleiben Sie uns gewogen.
Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!
Literaturverzeichnis:
1 Borch, L., Holm, M., Knudsen, M. et al. Long COVID symptoms and duration in SARS-CoV-2 positive children — a nationwide cohort study. Eur J Pediatr (2022) https://doi.org/10.1007/s00431-021-04345-z
2 Kikkenborg Berg S, Dam Nielsen S, Nygaard U, Bundgaard H, Palm P, Rotvig C, et al. Long COVID symptoms in SARS-CoV-2-positive adolescents and matched controls (LongCOVIDKidsDK): a national, cross-sectional study. The Lancet Child & Adolescent Health. 2022. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(22)00004-9
3 Stephenson, T., Pinto Pereira, S., Shafran, R. et al. Physical and mental health 3 months after SARS-CoV-2 infection (long COVID) among adolescents in England (CLoCk): a national matched cohort study https://doi.org/10.1016/S2352-4642(22)00022-0